Wofür stehst Du?
bekommen? Na, fällt Ihnen dazu gar nichts ein? Man könnte das doch, sagen wir mal, ›Panikattacken‹ nennen.« So wurde kurzerhand eine neue Krankheit erfunden, und als die Menschheit über sie informiert wurde, hatte das Pharmaunternehmen zufälligerweise gerade das passende Medikament auf den Markt gebracht. Im Prinzip hätten 99 Prozent der Menschen schon mal ein solches Gefühl der Enge gehabt, erklärte mir der Manager, das sei auch gar nicht so schlimm. Nun aber gab es einen Namen für ein Krankheitsbild, das die Ärzte vorher gar nicht orten konnten – und sie verschrieben das neue Medikament.
Wenn aber in unserer hochnervösen, jederzeit hysterisierbaren Gesellschaft Bedürfnisse und Ängste steuerbar und für wirtschaftliche Interessen benutzbar sind, dann ist für den Einzelnen Wahrheit oft kaum noch erkennbar. Vermeintliche und wahre Bedrohungen sind schwer zu unterscheiden. Wir sind auf Rat angewiesen. Aber wem von denen, die uns raten, können wir trauen?
Man hat bisweilen das Gefühl, eine frei vagabundierende Angst in unserem Inneren suche sich immer neue Objekte. Es ist, als könnten wir ohne diese Angst gar nichtmehr leben, weil sie uns ein Gefühl für uns selbst verschafft. Gleichzeitig versuchen wir, sie aber auch immer wieder abzuschütteln, indem wir eine bisweilen absurde Sicherheitsgesellschaft geschaffen haben, eine »Kultur der Angst«, wie der britische Soziologe Frank Furedi das in einem Buchtitel genannt hat: Culture Of Fear .
Woher kommt diese tief sitzende Verunsicherung des Einzelnen, die fast jeder von uns täglich spürt? Furedi zufolge ist ihre Ursache ein Verlust von Kontrolle über das eigene Leben, zusammen mit dem Schwinden traditioneller, Sicherheit gebender Sozialstrukturen, Werte, Verhaltensnormen. Dafür suchen wir ständig Ersatz: Ratgeber, Therapeuten, Coaches. Der Einzelne traut dem eigenen Empfinden nicht, weil er kein eigenes Empfinden mehr hat. Die Angst, so Furedis Kernthese, habe in unserer Gesellschaft »ihr Verhältnis zur Erfahrung verloren«.
Die Folgen: ständige Delegation von Verantwortung, permanente Irritation, dauerhafte Überforderung. Furedi schreibt, dass in unserer fragmentierten Gesellschaft verschiedenster Lebensstile, ohne allgemein anerkannte moralische Grundwerte, ohne alte soziale Bindungen und auch ohne einen Konsens darüber, wohin sich unsere Gesellschaft entwickeln soll, die letzten verbindenden Elemente eben Angst, Pessimismus und Scheu vor riskanten Entscheidungen sind.
Zum Beispiel die Schweinegrippe 2009. Oberster Wert politischen Handelns war jede Risikovermeidung, zum Preis, dass man der Pharmaindustrie ein schönes Geschäftsmodell eröffnete. Das Prinzip ist überall zu finden, auf EU-Ebene führt es sogar dazu, dass im Hygienewahn die Vielfalt von regionalen Lebensmitteln zerstört wird,weil viele kleine Käsereien und Metzgerbetriebe übersteigerten Anforderungen nicht mehr entsprechen können – hier macht sich die Lobby der Lebensmittelindustrie die Angst zunutze, zerstört ihre Konkurrenz und macht gleichzeitig etwas Sinnvolles kaputt: die Produktion gut schmeckender Lebensmittel aus den Regionen.
Es gibt keinen Bereich, der nicht von solchen Ängsten ergriffen wäre, nur die wirklichen Gefahren verdrängen wir lieber. Wie kann es sonst sein, dass Blätter wie Stern, Neon und Zeit wie Kassengift am Kiosk lagen, sobald sie die Klimaveränderungen auf dem Cover hatten?
Komischerweise habe ich eine Angst, die vielleicht als einzige noch gar nicht thematisiert worden ist: dass es eine Gefahr gibt, die wir wirklich existenziell fürchten müssen, die wir aber in diesem Wust aus Ängsten und Warnungen gar nicht mehr wahrnehmen.
Anfang des Jahres 2010 las ich die Berichte über ein Treffen von Elder Statesmen in Berlin, die in ihrer Amtszeit alle die Strategie der atomaren Abschreckung mitgetragen und mitgestaltet hatten. Nun machten sich Henry Kissinger, Helmut Schmidt, der ehemalige amerikanische Außenminister George Shultz, Hans-Dietrich Genscher und andere Ex-Staatenlenker für »Global Zero« stark, eine Welt ohne Atomwaffen. Was treibt sie an? Ein schlechtes Gewissen oder gar das Gefühl, eine Schuld abtragen zu müssen? Oder durchschauen sie die reale Gefahr einfach besser, war sie damals noch viel größer, als wir Atomkraftgegner uns das jemals hätten vorstellen können?Ich wartete die Rückkehr von Helmut Schmidt ab, bat um ein Gespräch und fragte ihn. Schmidt sagte: »Mir war die NATO-Strategie einer atomaren
Weitere Kostenlose Bücher