Wofür stehst Du?
Vergeltung schon Ende der Fünfziger-Jahre unheimlich.«
Wie bitte? War nicht Helmut Schmidt eines der liebsten Feindbilder der Friedensbewegung? Hatte er uns nicht den damals so martialisch anmutenden NATO-Doppelbeschluss eingebrockt, der nach dem Scheitern der Abrüstungsverhandlungen mit dem Warschauer Pakt tatsächlich dazu führte, dass nukleare Mittelstreckenraketen in Europa stationiert wurden?
Schmidt redete von den damaligen Gefahren eines atomaren Anschlags, viel ausführlicher aber noch über die aktuelle Bedrohung, die davon ausgeht, dass bald schon zehn, elf oder zwölf Staaten Atomwaffen besitzen könnten. Er sprach über einen Vortrag des früheren US-Verteidigungsministers Robert McNamara. Demnach bleiben einem Land, das einen Atom-Alarm erlebt, nur vier bis acht Minuten Zeit, um zu reagieren – also auch um zu prüfen, ob es sich um einen realen Angriff oder um einen Fehlalarm handelt. Und dann sagte der alte Herr, der für uns früher ein deutscher Falke war, es erstaune ihn, »dass viele von denen, die früher vor lauter Angst bereit waren, lieber Kommunisten zu werden als zu sterben, heute keine Angst mehr zu haben scheinen«. Und: »Ich habe kein Verständnis dafür, dass die Angst vor Atomwaffen inzwischen auf null gesunken ist.«
Wenn ich eine Liste aufstellen müsste unter dem Titel »Momente, in denen ich mir irgendwie blöd vorkomme«, stünde weit vorn der Augenblick, in dem ich aus alten Joghurtbecherdeckeln gedrehte Kügelchen in den riesigen Altmetall- und Aluminiumcontainer am Spielplatz werfe. Bitte, wenn man Weinflaschen in den Altglasbehälter wirft, das scheppert wenigstens, und man hat ein Gefühl von Volumen, Fülle! Und die alten Zeitungen muss ich in die ohnehin überfüllte blaue Papiertonne im Müllraum stopfen; auch hier verlasse ich die Abfallkammer im Gefühl, wirklich etwas beigetragen zu haben. Aber diese Kugeln in die Leere des Gehäuses … Das kommt einem so sinnlos vor, als versuchte man, das Isarbett mit Steinchen zu füllen, um den Fluss irgendwann mal zu Fuß überqueren zu können.
Ich stelle fest, dass ich in Zeiten, in denen ich mich besonders vor der Zukunft ängstige und in denen ich fürchte, ich würde nicht ausreichend Geld für meine Familie verdienen, dass ich also in solchen Zeiten beginne, den Müll sorgfältiger zu trennen als sonst. Das mag seltsam klingen und ein bisschen albern, aber es ist so: Wenn mir die Zukunft unsicher und unbeherrschbar erscheint, tue ich Dinge, die mir Sicherheit geben und das Gefühl, die Welt ein bisschen in den Griff zu bekommen. Vom Vater geerbte Zwanghaftigkeit kehrt zurück: Der legte Abend für Abend um dieselbe Zeit alle Armbanduhren der Familie neben die große Junghans -Uhr auf dem Wohnzimmerschrank, und wenn der Tagesschau -Gong erklang, justierte er alle diese Uhren und zog sie auf, jeden Abend, Tag für Tag, ein Ritual, das ihm Sicherheit gab und die Teufel in seinem Innern beschwichtigte.
So erscheint mir auch die Mülltrennerei gelegentlich: als Strategie der Selbstberuhigung, Ritual der Beschwichtigung des Furors im Innern, als Verhalten, das einem das Gefühl gibt, in Zeiten, in denen der Globus als solcher bedroht ist, wenigstens meinen Teil beizutragen, dass die Katastrophe ausbleibt – was auch immer die Katastrophe genau sein mag.
Ist nicht der Wertstoffhof in vielen deutschen Gemeinden heute geradezu das eigentliche materielle und spirituelle Zentrum des Ortes? Das, was früher die Kirche war? Der Ort, zu dem man sich einmal in der Woche in ritueller Weise begibt, um seine leer geleckten Joghurtbecher, seine ausgetrunkenen Weinflaschen, seine alten Zeitungen abzugeben – um dann wieder heimzugehen und von vorne zu beginnen. Eine Art Beicht-Ersatz, angeboten von einer weltlichen Kirche, die alles bietet, was die richtige Kirche auch im Sortiment hat, Sünden, Predigten, die drohende Sintflut – nur keine Erlösung.
In den Achtzigerjahren gab es Werbespots für ein Weichspülmittel namens Lenor, in dem sich Menschen darüber beklagten, ihr gerade frisch erworbener, sehr weicher und nun zum ersten Mal gewaschener Pullover sei kratzig geworden. Darauf tauchte neben der zuständigen Hausfrau eine Art Geist auf, die neblige Silhouette dieser Hausfrau, ihr Gestalt gewordenes Gewissen, das ihr zuredete: Warum sie denn irgendein Waschmittel genommen habe? Warum nicht Lenor?
So ein Gewissen steht heute fast immer auch neben mir, flüstert und quält mich und lässt nicht locker: Ist es denn nötig,
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