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Wofür stehst Du?

Wofür stehst Du?

Titel: Wofür stehst Du? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giovanni di Lorenzo Axel Hacke
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jedem so erwartet. Ich selbst hatte mir fest vorgenommen, diesem Kollektivzwang zu entgehen, meine Frau hatte mir ihren Segen gegeben, die Hebamme und der Professor hatten es ungläubig zur Kenntnis genommen. Am frühen Morgen des Geburtstages saß ich allein in einem Warteraum, neben mir stand schon das Bettchen für das Baby bereit. Nach kurzer Zeit hielt ich es mit mir selbst nicht mehr aus und klingelte kleinlaut an der Pforte zum Kreißsaal. Ich kam gerade noch rechtzeitig, Gott sei Dank.
    In dem Unternehmen, für das ich arbeite, gibt es seit Langem keinen jungen Vater mehr, der nicht die Von-der-Leyen-Elternzeit genutzt hätte, außer mir. Aber ich bin leider auch kein junger Vater, und außerdem leide ich an einem akuten Unersetzlichkeitssyndrom. Ich fühlte mich sogar im Kreißsaal dringend gebraucht.
    Wir wollen alles anders und vor allem besser machen, als es die meisten noch selbst erlebt haben. Ich erinnere mich an die Diskussionen in meiner Jugend über den repressiven Charakter der Kleinfamilie. Hauptsache, das Kind habe eine Bezugsperson, hieß es in der Schule, bisweilen auch im Freundeskreis meiner Eltern. Wenn der leibliche Vater oder die leibliche Mutter fehle, sei das nicht so schlimm. Jetzt beobachte ich selbst ein kleines Kind und sehe, wie es sich zwischen beiden Eltern jauchzend hin- und herwirft, weil es vor lauter Freude nicht weiß, wohin. Und die Mutter sagt: »So glücklich ist sie nur, wenn wir beide da sind.«
    Es wäre eine großartige Leistung, wenn es vielen von uns gelänge, als Familie zusammenzubleiben, ohne an ihr übermäßig zu leiden, und den Kindern etwas mitzugeben, was ganz viele in meiner Generation schmerzlich vermisst haben: die Erfahrung, gemocht und angenommen zu werden und das hin und wieder auch gesagt zu bekommen. Ich sehe, dass viele das schaffen, und ich bin ganz sicher: Die Kinder werden diese Sicherheit als Kapital fürs Leben mitnehmen. In der Summe aber werden wir höchstwahrscheinlich keine besseren Menschen in die Welt entlassen, jede Generation macht ihre eigenen Fehler.
    Ja, aber was ist, wenn man nicht zusammenbleibt? Ich habe zweimal geheiratet, 1984 das erste und 1996 das letzte Mal. Ich glaube nicht, dass Kindern geholfen ist, wenn Eltern zusammenbleiben, die irgendwann erkennen mussten, dass sie zusammen auf Dauer entgegen ihren Erwartungen nur unglücklich sein können. Eltern sind für ihre Kinder Vorbilder, und sie sollten nicht Vorbilder sein in Gleichgültigkeit, Entfremdung, Langeweile, Streit.
    Mich fasziniert, in welcher Vielfalt wir heute leben können. Wie Familien heute manchmal strukturiert sind: aus verschiedensten Teilen zusammengesetzt, mit Vätern, Stiefvätern, Exfrauen, Halbgeschwistern. Ich finde es großartig, wie manche alleinerziehenden Mütter sich durchs Leben schlagen. Kann man es nicht auch mal positiv sehen, dass wir es geschafft haben, die Familie an so vielen Stellen geradezu neu zu erfinden, ihre Enge, ihreRepression abzulegen? Kann man nicht auch mal einige Worte der Bewunderung dafür finden, wie ernsthaft und verantwortungsvoll viele Leute mit ihren Trennungsgeschichten heute umgehen? Welche Mühe sie sich mit ihren Beziehungen geben?
    Die ersten sieben Jahre meines Schullebens war ich immer der Klassenbeste. Ich war der Erste, der sich beim Kopf-Wettrechnen wieder setzen durfte, während der Schlechteste stets dem Gespött der anderen preisgegeben war, er stand ja bis zum Schluss. Ich war der Beste im Vorlesen, so gut, dass ich als Drittklässler denen aus der Achten vorlesen musste, damit sie mal sähen, was so ein kleiner Zwerg schon könne, während sie immer noch herumstotterten beim Lesen. Ich bekam bei den Bundesjugendspielen im Sport stets eine Große Urkunde.
    Ich war stolz darauf, aber gleichzeitig litt ich unter der Anspannung. Oft konnte ich abends nicht einschlafen, weil mein Kopf so schmerzte, dass ich weinend im Bett lag. Aber wenn man mich fragte, sagte ich stets, ich ginge gerne zur Schule, die Schule sei etwas Schönes.
    Einer meiner Brüder war in seinen frühen Jahren nicht gesund, meine Eltern sorgten sich um ihn, ich spürte das. Ich versuchte, ihnen zu helfen, indem ich ihnen keine Sorgen machte, indem ich also gut in der Schule war, zum Beispiel. Aber je mehr mir das gelang, desto mehr Kopfweh hatte ich, denn ich hatte natürlich Angst zu versagen, keinen Einser oder Zweier nach Hause zu bringen, nicht der Beste zu sein. Die Eltern saßen ratlos an meinem Bett, sie fürchteten Gehirntumore und

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