Wofuer wir kaempfen
schönen, feingliedrigen Hand sah ich eine abnorm vergrößerte Riesenpranke mit aufgequollenen Fingern. Es war die Hand eines Monsters – aufgetrieben durch die Explosion und die vielen Medikamente. Mein Blick wanderte hinunter zum Bettende. Von den Füßen schauten nur die Zehen aus den Verbänden. Ich zählte zehn. Alle dran. Nur seltsam, dass der eine Fuß so dunkel war. Es war kein Ruß von der Explosion, sondern ein ganz komisches Schwarz. Wie bei einer ägyptischen Mumie. Das war kein blauer Fleck oder so was. Ich schaute in den Verband zwischen den Zehen. Der ganze Fuß war schwarz, soweit ich sehen konnte.
Heike, Tinos Schwester, ist Fachkrankenpflegerin auf der Intensivstation der Unfallklinik Murnau. Sie kontrolliert die Beatmung, den Puls und versucht sich ein Bild zu machen anhand der Krankenakte, die wie üblich am Fußende des Bettes deponiert ist. Sie versteht die Kürzel und Fachausdrücke und kann die Medikation und das Piepsen der Monitore deuten. Tinos Blutdruck ist schwach. Er muss viel Blut verloren haben und bekommt Blutplasma und stark dosierte Medikamente zur Durchblutungsförderung. Sie sollen das verletzte Bein retten. Heike fasst allen Mut zusammen und hebt die Decke über Tinos Bein. Durch die dünnen Laken ist zu erkennen, dass das eine Bein deutlich dunkler ist als das andere. Ihr ist sofort klar, dass Tino das Bein nicht behalten würde. Sie weiß aus der Intensivmedizin, dass es häufig nicht bei einer Amputation bleibt, sondern noch mehr weggeschnitten werden muss, weil sich die durchtrennten Nervenenden entzünden oder Infektionen im Knochen stecken, die sich weiter nach oben durch den Körper fressen. Heike behält ihre Erkenntnis für sich und sagt nur, das Bein sehe nicht so gut aus. Dass sie Tinos Bein in diesem Augenblick verloren gibt, sagt sie nicht. Sie erklärt uns, was zurzeit medizinisch unternommen werde, um Tinos Zustand zu stützen, und welche Funktion die Apparate und die vielen Kabel und Schläuche haben. Ihr besorgter Blick geht zu den Eltern, die mit der Situation deutlich überfordert sind. Heike sieht ihre Angst und sie versucht stark zu sein und den Eltern zu helfen.
Tinos Mutter war ganz still und in sich gekehrt. Sie hatte einen gesunden, lebenslustigen Sohn verabschiedet, der einen als sicher eingestuften Beruf hatte und eine Freundin – und dann bekommt man ihn so zurück. Es war ein Schock für sie, ihn so liegen zu sehen mit den ganzen Schläuchen, das Piepsen der Apparate und nicht zu wissen, wie es weitergeht. Auch Vater Käßner stand regungslos da. Aufgewühlt, aber nicht in der
Lage, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Er konnte Tino nicht berühren. Nicht mit ihm sprechen. Jeder spürte, wie sehr es in ihm arbeitete. Er verließ nach kurzer Zeit den Raum.
Heike verstand, was in ihrem Vater vorging. Sie selbst spürte plötzlich eine tiefe Kraftlosigkeit: »Und dann siehst du deinen Bruder da liegen. Intubiert, beatmet, es piept überall. Das ist etwas ganz anderes als bei einem Patienten bei uns in der Klinik. Ich bin mit Tino aufgewachsen, und meine Erinnerungen an ihn waren so anders als das, was da vor mir lag – ich stand einfach hilflos da.«
Zum ersten Mal konnte Heike verstehen, was Angehörige fühlen, wenn sie in die Intensivstation kommen. Es bestimmt heute noch ihre Arbeit, wenn sie mit Menschen zu tun hat, die in derselben Situation sind, wie sie es damals war. Heute kann sie viel besser einschätzen, warum Menschen panisch reagieren, wenn die Apparate plötzlich piepsen, wenn sie weinen und auch, wenn sie hinausgehen, weil sie es nicht mehr aushalten, einen geliebten Menschen so zu sehen.
Das Leid, die Kinder und die Familie
Für Violetta erschien mir die Ungewissheit und das Warten noch härter zu sein als für mich: eine Mutter von zwei Kindern, die ihren Vater abgöttisch liebten, mit dem sie in jeder freien Minute Sport machten, vor allem Eishockey. Tino hatte den Unterschenkel verloren, aber er würde mit einer Prothese gut durchs Leben kommen, wieder gehen, laufen und Rad fahren können – wenn er den Willen aufbringen würde, mit dieser Verletzung zu leben, sagten die Ärzte immer wieder. Bei Stefan waren die Verletzungen ungleich schwerer. Ihm drohte ein Leben im Rollstuhl, lebenslang abhängig von Menschen, die ihn pflegen. Vio und ich fürchteten uns vor dem Tag, an dem die beiden aus dem Koma erwachen und die ganze Wahrheit erfahren würden. Wir hatten kaum Hoffnung, dass unsere Männer damit fertig werden
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