Wofuer wir kaempfen
geholfen in seiner kleinen Welt.
Vio war auch erstaunt, wie groß die Hilfe war, die direkt und
indirekt von ihren Kindern kam. Sie hat es später einmal so zusammengefasst: »Es sind so viele Dinge, bei denen mir meine Kinder eine große Stütze waren und Probleme für sich selbst gelöst haben, für die ich ihnen keine Lösung hätte anbieten können. Mit Kindern kannst du nie in einer depressiven Stimmung stecken bleiben, weil sie dich durch ihre unverfälschte natürliche Art immer herausreißen. Natürlich waren sie auch mal niedergeschlagen – aber wenn sie dann merkten, okay, es gibt nichts Neues, dann reißen sie sich da raus, sei es auch nur, dass sie fragen: ›Mama, liest du mir was vor?‹ Dann kommst auch du aus deinem Stimmungstief wieder heraus. Als Mutter bist du wachsam und lässt dem Negativen so wenig Raum wie möglich, du kämpfst und verteidigst die Zukunft deiner Familie. Ich war nie krank in all den Jahren seit dem Anschlag, und mir ist – Gott sei Dank! – nie etwas Schlimmeres passiert. Diese innere Forderung an dich selbst, nicht zu versagen, scheint dich irgendwie zu schützen. Meine Kinder waren zu keinem Zeitpunkt eine Belastung für mich. Wie oft habe ich das gehört, o Gott, eine Mutter ganz allein mit zwei Kindern! Nein, wir waren zu keinem Zeitpunkt allein, wir hatten uns und waren zu dritt. Ich war nicht nur gefordert als Mutter – ich habe umgekehrt sehr viel bekommen, weil Kinder so viel von sich geben können.«
Im Krankenhaus konnten wir nun nichts mehr erreichen, und so sind wir mit den Kindern in die Koblenzer Innenstadt gefahren, um uns etwas abzulenken. In der Stadt wurde gerade der Weihnachtsmarkt aufgebaut. Plätzchen backen und Weihnachten feiern, das würde es dieses Jahr für uns wohl nicht geben. Doch Vio schien das alles nicht zu beschäftigen, die Kinder waren aufgekratzt und wuselten zwischen den Buden herum. Im Hotel hatte sie noch sehr angespannt gewirkt, bevor wir den Kindern die Wahrheit sagen wollten, jetzt aber wirkte sie gelöst, fast heiter.
Später sagte sie mir, dass sie in den Tagen nach dem Anschlag durch ihre Kinder sehr viel über sich und ihr eigenes Leben erfahren hat: »Für die Kinder war es ein ganz normaler Weihnachtsmarkt – es ist so faszinierend, wie sie alles, was stört und schmerzt, in diesen Augenblicken ausblenden und vergessen können. Ich habe damals gedacht: Wie viele Menschen haben hinter der Fassade glücklicher, entspannter Gesichter eine ähnlich große Krise durchzukämpfen wie meine Familie? Man sieht es den Leuten ja nicht an, welche Last sie mit sich herumtragen. Wir haben Mandeln gekauft, uns amüsiert und gelacht. Wer uns gesehen hätte, wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass mein Mann zehn Minuten entfernt um sein Leben kämpft. Ich habe damals von meinen Kindern gelernt, wie wichtig es ist, selbst in der größten Anspannung immer wieder zeitweise aus den Sorgen herauszutreten und wenigstens für einen Augenblick alles vergessen zu können. Kinder sind in ihrer Unbekümmertheit und Spontaneität so beneidenswert stark, und ich verstehe bis heute nicht, warum wir all diese so heilsamen Eigenschaften wieder vergessen haben, wenn wir erwachsen sind. Ihr sollt sein wie die Kinder, steht schon in der Bibel. Du brauchst das, um wieder Kraft zu tanken für dich, und diese Kraft brauchst du auch, um wieder geben zu können. Annehmen und loslassen. Ohne diesen Rhythmus aus Geben und Nehmen erstickst du.«
Die Feldjäger, die uns in die Stadt begleitet hatten, gaben sich alle Mühe, die Kinder abzulenken. Sie hatten ein richtiges Besuchsprogramm organisiert, waren zu einem Eishockeyspiel gefahren und hatten die Feuerwehrzentrale besichtigt. Neben dem Weihnachtsmarkt war eine Kirche, und Violetta sagte: »Ich geh da jetzt rein und zünde eine Lebenskerze für Stefan an!« Ich war hin- und her gerissen, ob ich mitgehen sollte. Kirchen erschienen mir fremd und unheimlich. Ich war in der
DDR groß geworden und hatte mit der Kirche nichts am Hut gehabt, weil ich damit nie in Berührung gekommen war. Andererseits hätte ich nach jedem Strohhalm gegriffen, der Tino hätte helfen können – auch Beistand von ganz oben, wenn da überhaupt jemand war. So stand ich vor dieser Kirche in der Koblenzer Innenstadt und wusste nicht, ob ich jetzt reingehen und auch eine Kerze anzünden oder mir diesen Aberglauben sparen sollte. Ich konnte einfach nicht heraus aus meiner Haut, obwohl eine Lebenskerze für Tino nicht verkehrt sein
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