Wofuer wir kaempfen
der Augen. Abgerissene Gliedmaßen. Ich dachte wirklich: ›Tino, scheiß auf dein Bein – du lebst!‹ Ich hatte ihn noch. Schlimm wäre es gewesen, wenn wir ihn in der Kiste zurückbekommen hätten. Noch heute fällt es mir sehr schwer, darüber zu sprechen. Es ist zwar fünf Jahre her – aber ich bekomme die Bilder bis heute nicht aus dem Kopf heraus.«
Das Wiedersehen mit Tino
Die Ärzte fragten uns vorsichtig, ob wir Tino und Stefan noch unbedingt sehen wollten. Wir würden nicht mit ihnen sprechen können – aber wir könnten sie wenigstens sehen. Was für eine Frage! Deshalb waren wir ja alle nach Koblenz gekommen. Ich sagte: »Ich weiß nicht, was die anderen denken, ich jedenfalls will Tino auf jeden Fall sehen. Egal, wie spät das heute noch wird!«
Mir war das sehr wichtig, mit eigenen Augen zu sehen, in welchem Zustand Tino war. Es war diese irrationale Angst: Ist er das wirklich? Liegt nicht doch ein Irrtum vor? Ist Tino wirklich zu Hause? Diese Zweifel würde ich erst beseitigen können, wenn ich bei ihm wäre. Genau deshalb war es auch das einzig Richtige und wirklich Notwendige in diesem Moment für alle im Raum: Tino und Stefan zu sehen und sprichwörtlich mit Händen zu begreifen, dass es geschehen war. Ich wollte die Beruhigung haben: Ja, alles, was möglich ist, wird für Tino getan, und auch ich kann jetzt nicht mehr tun. Ich wollte nicht mehr wie in den vergangenen Stunden tatenlos warten müssen, abhängig von anderen, die mehr wissen, aber nichts mitteilen. Ich war ganz nah bei Tino und spürte, dass er meine Nähe brauchen und fühlen würde.
Dass es in einer solchen Situation für einen Angehörigen nichts Wichtigeres gibt, als seinen Mann, Freund oder Sohn wiederzusehen, hat auch Vio so empfunden: »Mir ging es genauso wie Antje, als der Arzt mich fragte, ob ich Stefan sehen wollte. Ich habe gesagt, ich muss ihn sehen, ihn anfassen, ich muss wissen, dass er nach Hause gekommen ist – denn er hatte in den letzten Tagen vor dem Einsatz immer versprochen: ›Schatz, ich komm heim!‹ Ich wollte, dass er irgendwie im Unterbewusstsein fühlen kann, dass er dieses Versprechen eingehalten hat,
dass ich nahe bei ihm bin, dass seine Familie da ist und dass wir ihm beistehen in seiner Not. Es war ja noch gar nicht klar, ob Stefan die kommenden Stunden überleben würde. Ich hätte es mir nicht verziehen, wenn er sterben würde, ohne dass wir uns noch einmal gesehen hätten. Ich glaube fest daran, dass sich Menschen, die sich lieben, spüren, selbst wenn sie im künstlichen Koma vor sich hindämmern und mit dem Tod ringen. Da sind Schwingungen, die von jedem Menschen ausgehen und die sich verbinden, wenn man sich nahe steht, Wellen, die Botschaften überbringen, Botschaften, die ohne Worte wahrgenommen werden. Das beginnt schon mit der Wärme einer Berührung. Unser Unterbewusstsein ist so groß und so unerforscht, dass wir gar nicht bis ins Letzte wissen können, was sich da auf einer anderen Ebene zwischen Menschen abspielt. Medizinisch und mit wissenschaftlichen Mitteln ist das natürlich nicht nachweisbar – aber für mich war es da. Dafür brauche ich keine Wissenschaft. Das Sehen und Sich-nahe-Spüren haben eine unglaubliche Bedeutung.
Wenn Stefan in dieser Nacht wirklich hätte sterben müssen, wäre es für mich unvorstellbar gewesen, ihn vorher nicht noch einmal gesehen und seine Hand gehalten zu haben. Wir sind oft Hand in Hand zusammen eingeschlafen. Das war ein Gleichklang, bevor man einschläft, Frieden zu finden nach einem langen Tag und zu wissen, man gehört zusammen. Er sollte nicht alleine gehen, wenn er gehen müsste. Er sollte spüren, dass ich noch mal da war. Ich wollte ihm zeigen, dass ich an seiner Seite stehe und für ihn da bin, egal was kommt. Deswegen war mir die Nähe zu Stefan so wichtig. Es war also gar keine Frage: Ich musste zu Stefan, egal, wie er aussehen würde und in welchem Zustand er war. Ich war den Ärzten dankbar, dass sie mir von sich aus den Besuch ermöglichten.«
Vio spürte wie ich, dass wir unsere Männer unbedingt sehen mussten. Tinos Schwester Heike hatte uns erzählt, dass sie häufig miterlebt hatte, wie Patienten, die seit Tagen bewusstlos waren und im Sterben lagen, erst loslassen und gehen konnten, als der Angehörige kam, von dem sie sich vielleicht noch verabschieden wollten. Wenn die Verbindung zwischen Sterbendem und Besucher hergestellt war, ging es dann meist sehr schnell und friedlich zu Ende. Und so war ich sicher, dass auch
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