Wofuer wir kaempfen
Auslandsvorbereitung der Bundeswehrsoldaten durchgeführt wird. Das war eine gemischte Ausbildung für alle, die ins Ausland sollten.
Tino stach aus allen anderen Soldaten heraus. In unserem Hochzeitsbuch habe ich drei Jahre später diesen magischen Moment herausgegriffen, weil das der Anfang war und er so gut beschreibt, wie wir uns erst aneinander herantasten mussten wie zwei Kinder mit verbundenen Augen auf einer Geburtstagsfeier, bis wir uns erkannt haben.
»Es war im Sommer 2003 in Rothenburg an der Fulda. Unsere Blicke trafen sich. Wir stellten uns die Frage: Gehören wir zusammen? Die Zeit sollte es zeigen. Das erste Mal, dass wir uns richtig kennenlernen durften nach unserem Treffen, war in Moritzburg bei Dresden. Und es sollte nicht das letzte Treffen bleiben. Ein zweites und drittes folgten. Und das Feuer zwischen uns wurde entfacht.«
Tino war lustig, 180 Zentimeter groß, durchtrainiert, schlank, er hatte ein sehr männliches Gesicht und sehr schöne, sensible Augen mit langen Wimpern und dieses Lächeln – er war irgendwie immer gut gelaunt. Und vor allem: Er war genau wie ich in der DDR geboren, und zwar in Chemnitz, Sachsen – endlich jemand, mit dem ich wieder meine Sprache sprechen konnte. Wir hatten dieselbe Geschichte, dieselbe Jugend, DDR-Schule, FDJ-Freizeitlager, Erster-Mai-Feiern. Er kannte Quarkkeulchen, Meissner Fummel oder Neinerla. Wir hatten dieselben Songs gehört von den Puhdys, City, Karat, Die Art oder Stern-Combo Meissen und bei den FDJ-Partys zu Computerkarriere getanzt.
Meine Stubenkameradin Eva war aus der Einheit von Tinos Stubenkamerad und wir haben nach den Seminaren jeden Tag die Freizeit miteinander verbracht. Nebenbei habe ich ständig unauffällig ein paar neue Informationen über Tino eingeholt, so von Frau zu Frau. Eines Tages hat Eva gesagt: »Komm doch abends mal mit in die Pizzeria, da sind auch die anderen Jungs aus meiner Einheit.« Und so saß ich dann ganz zufällig Tino gegenüber am Tisch und habe ihn den ganzen Abend nicht aus den Augen gelassen. Geländeerkundung strategisch günstiger Positionen.
Nach diesem Abend habe ich alles unternommen, damit ich in den Seminaren immer in die Gruppe von Tino gekommen bin. In den Kursen über Minenkunde bis hin zur Erstversorgung von Schussverletzungen und Minenopfern. Es ging um faustgroße Löcher im Körper, um zerfetzte Füße, abgerissene Gliedmaßen – und immer nur um das eine: Möglichst rasch den Blutverlust zu stoppen und den Verletzten evakuieren zu lassen.
Das erste Mal, dass ich in Tinos Gruppe kam, war ausgerechnet beim Minenseminar mit dem Sanitätskursus zur Erstversorgung Verletzter. Tino und ich bildeten ein Zweierteam. Wir
sollten lernen, möglichst rasch Druckverbände anzulegen und Blutungen zu stoppen. Es wäre mir damals nie in den Sinn gekommen, dem irgendeine Bedeutung beizumessen. Ich bin auch nicht gläubig, habe nie einer Kirche angehört und glaube auch nicht an Übersinnliches. Aber heute frage ich mich schon manchmal, ob das irgendwie ein Zeichen gewesen sein soll, das uns vorbereiten sollte auf das, was dann kam. Oder misst man dem Geschehen später nur eine größere Bedeutung bei, als es gerechtfertigt ist?
Jedenfalls war Tino das Opfer. Ich musste ihm das Bein verbinden. Im Nachhinein: Wieso habe ich ihm gerade das rechte Bein verbunden – und zwar nur den Unterschenkel? Einfach nur Zufall? Es war ausgerechnet der rechte Unterschenkel, den er später verlieren sollte. Ich habe noch oft über diese Szene nachgedacht. Wir sitzen da. Tinos durchtrainiertes Sportlerbein ragt aus der hochgekrempelten Uniformhose. Ich habe ein warmes Gefühl im Bauch und werde rot, weil ich ihn, unsicher, wie ich bin, mit der Schere piekse. Wir lachen. Und ich schlage weißes Mullband um diesen Unterschenkel, der zwei Jahre später amputiert werden muss. Als ich fertig war, hat er mich etwas unsicher angelächelt. Ich wusste damals nicht, welche Geschichte mir dieser Blick Jahre später erzählen sollte. Am jenem Abend in der Pizzeria haben wir uns nur unterhalten. Oberflächliches Geplauder. Unter dieser glatten Oberfläche brodelte es aber merklich auf beiden Seiten. Wir hatten uns beide offenbart und wussten, dass wir weit gegangen waren, ohne ein Wort darüber zu sprechen. So belauerten wir uns gegenseitig, wer den nächsten Schritt unternehmen würde, um das Wirklichkeit werden zu lassen, was wir beide fühlten. Tino zu berühren unter dem Vorwand, ihn zu verbinden, war ein magischer Moment
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