Woge der Begierde
Daphne vorsichtig. »Schließlich hattet ihr doch außer deinen Cousins nur noch euch beide, oder?«
Charles zog verlegen an seinem Ohr. »Ach, ich hatte ganz vergessen«, sagte er fast betreten, »ich habe noch gar nicht Sophies Sohn, meinen Halbbruder Raoul erwähnt, nicht wahr?«
14
D aphne starrte ihn eine Weile stumm an, ehe sie sich mit zuckersüßer Stimme erkundigte: »Gibt es noch irgendwelche anderen Verwandten, die du vergessen hast? Oder muss ich mich in Zukunft dauernd fragen, ob der Nächste, dem ich die Tür öffne, ein weiteres Mitglied deiner Familie ist, das du mir gegenüber zu erwähnen versäumt hast?«
Charles grinste. »Genau genommen würdest du die Tür gar nicht selbst öffnen - das ist schließlich Garthwaites Aufgabe.«
Auf diesen Scherz ging Daphne nicht weiter ein, sondern verkündete mit in die Hüften gestemmten Händen: »Ich möchte dich daran erinnern, dass ich vor Kurzem erst Mitglied dieser Familie geworden bin. Mit Ausnahme deiner Verwandtschaft mit dem Earl, von der ich im Übrigen durch andere erfahren habe, und der Bekanntschaft mit deinen Cousins und anderen, die zu unserer Hochzeit da waren, weiß ich nichts von deiner Familie. Du warst mehr als verschwiegen hinsichtlich deiner nächsten Verwandten. Ich muss dir sagen, dass mir diese Geheimniskrämerei nicht gefällt, besonders, da sie Familienmitglieder betrifft.«
»Die Familienverhältnisse sind reichlich kompliziert«, erwiderte er müde, »vor allem, wenn man den alten Earl mit berücksichtigt, meinen Großvater väterlicherseits.«
»Im Augenblick interessiert mich dein Großvater nicht sonderlich«, entgegnete sie scharf. »Es ist schlimm genug,
dass ich nichts von deiner Familie weiß, und ich habe bis gerade eben noch nicht einmal von John und Daniel gewusst oder dass sie gestorben sind. Da du und deine Stiefmutter einander nicht mochtet und sie schon seit ein paar Jahren tot ist, kann ich ansatzweise verstehen, dass du es vermeidest, über sie zu sprechen. Aber jetzt finde ich heraus, dass du noch einen Bruder hast! Wo ist er? Wie alt ist er? Und wann werde ich ihn kennen lernen?« Ihre Augen wurden schmal. »Oder willst du mir etwa sagen, auch ihn habe ein tragisches Schicksal ereilt?«
»Halbbruder«, verbesserte Charles sie beinahe automatisch, vermied es aber, ihre letzte Frage zu beantworten. Ihr Gesichtsausdruck warnte ihn, er würde gleich entdecken, dass seine süße junge Frau durchaus Temperament besaß, und wenn er nicht in Ungnade bei ihr fallen wollte, lagen ein paar schwierige Momente vor ihm. Verdammt! So hatte er sich die ersten Stunden auf Stonegate nicht vorgestellt. Sicherlich hatte er ihr zu einem bestimmten Zeitpunkt von Raoul erzählen wollen, aber nicht alles, sondern gerade genug, um ihre Neugier seinetwegen zu stillen, aber dazu war jetzt nicht der rechte Zeitpunkt. Es war falsch, ihr nicht von Anfang an ein paar Tatsachen über die Familie mitzuteilen, in die sie einheiraten würde. Allerdings musste man ihm auch zugutehalten, dass alles recht schnell gegangen war. Er dachte an die vergangenen Wochen, versuchte einen Moment zu finden, in dem er ihr ins Ohr hätte flüstern können: »Übrigens, habe ich schon mal erwähnt, dass ich einen älteren Bruder namens John hatte, der vor beinahe fünfzehn Jahren ermordet wurde? Oder dass Johns Sohn sich selbst das Leben genommen hat, vor fast vier Jahren, und dann vor etwa drei Jahren meine Stiefmutter, eine Frau, die ich verachtete, von einem Irren getötet wurde … übrigens demselben
Irren, der zur selben Zeit meinen Halbbruder umgebracht hat?« Noch nicht einmal Daphne würde er alle Ereignisse jener grauenvollen Nacht anvertrauen - oder wenigstens nicht schon jetzt. Ihr von Raoul zu erzählen und was unten im Kerker unter dem Dower House geschehen war, war nichts, woran er gerne dachte.
Während die Minuten vergingen und Charles stumm blieb, seufzte Daphne. »Willst du mir nicht antworten?«, fragte sie ruhig. »Gibt es einen Grund, dass du nicht über Raoul sprechen willst?«
»Es gibt sogar mehrere Gründe dafür«, gestand er, »aber der wesentlichste ist, dass ich dich nicht gleich in der ersten Stunde in deinem neuen Heim mit Familientragödien langweilen wollte.«
Sie betrachtete ihn einen Moment lang, erinnerte sich wieder an die kurze Zeit, die sie einander kannten. Es war nicht mehr als ein Monat, und obwohl Vertrauen und Achtung rasch zwischen ihnen gewachsen waren und sie ihn liebte, machte sie sich mit fast so etwas
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