Woge der Begierde
dich nicht änderst, wirst du in ein paar Jahren genauso ein verkrusteter alter Kerl sein, wie man sie in den Lesesälen von White’s oder Waiter’s findet.«
»Die«, fügte Charles hinzu, »die immer vor sich hin brummen und sich über die missratene Jugend von heute beschweren.«
Marcus wirkte beleidigt. »Danke, sehr freundlich von euch. Bloß, weil ich in meinem Verhalten nüchterner bin als ihr beide, gibt es keinen Grund, beleidigend zu werden.« Er schaute von einem grinsenden Cousin zum anderen. Seine Augen wurden schmal. »Und ich nehme an, dass ihr als Quellen der Weisheit eine Lösung für mein Problem habt, ja?«
»Allerdings«, antwortete Charles mit noch breiterem Grinsen als eben.
»Du brauchst eine Frau«, erklärte Julian mit lustig funkelnden Augen.
»Eine, die dein wohlgeordnetes Leben auf den Kopf stellt«, fügte Charles hinzu.
Marcus blickte hilfesuchend zu Nell und Daphne, aber
sie lächelten nur. »Eine Frau«, sagte er mit vor Entsetzen flacher Stimme. »Mir wären Geister lieber.«
Daphne fand, dass sie mit der Vorstellung von Geistern bemerkenswert gut zurechtkamen, und das sprach sie auch aus.
Julian schnitt eine Grimasse. »Wenn dieses Gespräch vor ein paar Jahren stattgefunden hätte, hätte ich angenommen, dass ihr beide reif für die Irrenanstalt wärt oder dass mein Cousin eine Frau mit überaktiver Phantasie geheiratet hätte, aber inzwischen ist uns das Unerklärliche … äh, das Übernatürliche nicht mehr völlig fremd.« Er seufzte. »Ich könnte mir wünschen, dass es sich anders verhielte, aber ich kann auch nicht einfach so tun, als ob es nichts in dieser Welt gäbe, das meine Vorstellungskraft übersteigt.«
Nell nickte. »Es ist ihm nicht leichtgefallen zu glauben, dass es eine gedankliche Verbindung zwischen mir und Raoul in meinen Albträumen gab, dass ich Raouls Gräueltaten tatsächlich sehen konnte. Ich kann es selbst ja nicht erklären. Aber er hat mir dann doch geglaubt und hat sogar akzeptiert, wenn auch höchst widerwillig, wie ich hinzufügen darf, dass ich von Ereignissen geträumt habe, die wirklich geschehen sind.« Sie lächelte schwach. »Danach sind Geister ganz leicht.«
Daphne schaute Marcus fragend an. »Und du? Glaubst du es?«
Marcus hob eine Schulter. »Ich möchte es nicht, aber es gilt entweder, es zu glauben oder anzunehmen, dass meine ganze Familie sich in eine Bande Irrer verwandelt hat.« Er lächelte schief. »Ich will nicht behaupten, dass ich restlos überzeugt bin, dass das heute Nacht in dem Treppenhaus ein Gespenst war, aber ich versichere euch, dass ich das Konzept eines Geistes als Schuldigen in Erwägung ziehe.«
Das war zwar nicht die Bekräftigung, die Daphne am liebsten gehört hätte, aber wenigstens tat Marcus es nicht einfach rundweg als Unsinn ab.
Nell stimmte mit Daphne überein, dass das kleine Gespenst Katherine sein musste und dass es nur Sir Wesleys bösartiger Geist gewesen sein konnte, der Adrian die Stufen hinuntergestoßen hatte. Julian pflichtete Nell bei, aber Marcus wehrte sich noch. Es war die vereinte Überzeugungskraft aller vier anderen nötig, ehe er schließlich wenigstens halbwegs an die Existenz der Geister von Katherine und Sir Wesley glaubte. Nachdem Marcus’ Skepsis aus dem Weg geräumt war, entschied man über das weitere Vorgehen. Morgen würden sich die Herren darum kümmern, dass die Schießscharten geöffnet wurden, damit mehr Licht auf die Stufen fiel, während die Damen die Familienpapiere nach einer Erwähnung von Katherine und Sir Wesley durchsuchten. Wenn das erledigt war, konnten sie sich dann dem Einreißen der Wand auf dem Treppenabsatz zuwenden. Alle rechneten damit, dahinter eine Kammer zu finden.
»Ich denke auch«, sagte Charles, als sie sich anschickten, sich auf ihre Zimmer zurückzuziehen, »dass wir noch nach einem weiteren Zugang zu der Treppe suchen müssen. Ich kann nicht glauben, dass es keine Verbindung nach draußen geben soll, und wette, dass irgendwo in der Außenmauer eine Tür ist. Die müssen wir nur finden.«
Daphne fühlte sich unbehaglich bei der Vorstellung, ihr Schlafzimmer zu benutzen, bis die neu entdeckte Geheimtür sicher verschlossen werden konnte. Es war schlimm genug, dass ihr hier manchmal nachts ein Geist erschien, aber der Gedanke an die Tür, die am Ende jemand von der anderen
Seite öffnete, während sie hier schlief, und gar in ihr Schlafzimmer käme, das war mehr, als sie ertrug. Sie nahm ihre Sachen, um sich in ihrem Ankleidezimmer
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