Woge der Begierde
fing den Blick auf und erwiderte ihn, ohne zu blinzeln. »In diesem Haus geht etwas überaus Merkwürdiges vor sich, und ich denke, es ist an der Zeit, dass du und deine Frau uns die Wahrheit sagen.« Er sah zu Daphne. »Du hast ganz zufällig die Umrisse einer Tür gesehen, die zu der Treppe führte?«
Daphne wurde rot, und sie blickte hilfesuchend zu Charles. Einen langen Moment sahen sie sich in die Augen, dann seufzte Charles und schaute zu Julian. »Dir entgeht aber auch nichts, was?«
»Du vergisst hier, dass ich dich fast mein ganzes Leben kenne. Ich weiß es, wenn du etwas vor mir verheimlichst«, antwortete Julian, ohne den Blick von Charles zu nehmen.
»Charles, was ist es?«, wollte Nell wissen. »Hat es mit Raoul zu tun?«
»Du kannst es uns ruhig sagen«, erklärte Marcus und
runzelte die Stirn. »Ich bin mit Julian einer Meinung: Adrians Sturz war kein Unfall. Wenn du etwas weißt, musst du es uns erzählen.«
»Es hat nichts mit Raoul zu tun«, erwiderte Charles und wünschte sich fast, dass es so wäre. Seine Verwandten fänden es sicher leichter zu glauben, dass Raoul Adrian gestoßen hatte, dachte er bitter, als die Vorstellung, dass es ein Gespenst gewesen war.
»Was, um Himmels willen, ist es dann?«, fragte Marcus ungeduldig.
»Du weißt doch sicherlich, dass du uns trauen kannst, oder?«, warf Julian ein.
Charles blickte Daphne gequält an. Sie wusste, er würde sie weiter im Ungewissen lassen, wenn es nötig wäre, aber es wäre nicht richtig, das von ihm zu verlangen.
»Es ist etwas ziemlich Phantastisches«, begann Daphne mit leiser Stimme. »Die meisten Leute würden sogar Unglaubliches sagen.« Sie schluckte. »Manche würden uns am Ende sogar für verrückt halten … oder wenigstens für von einer überreizten Phantasie geplagt.«
Julian und Nell wechselten einen Blick, ehe Nell sich zu Daphne umdrehte und ihre Hand mit ihrer bedeckte. »Das Unglaubliche ist uns nicht fremd. Und überreizte Phantasie kann sehr hilfreich sein.«
»Meine Frau hat recht«, fügte Julian hinzu. »Vor drei Jahren hatten wir selbst mit phantastischen Ereignissen zu tun, und ich habe entdeckt, dass es vieles auf dieser Welt gibt, was ich nicht verstehe, was ich nicht erklären kann. Erzählt es uns.«
Daphne schaute zu Charles, der ihr ermutigend zulächelte. »Sie sind mit mir verwandt, Liebste; du wirst feststellen, dass sie nicht un intelligent sind.«
Julians Lippen zuckten, und Marcus schnaubte abfällig. Nell lächelte und wiederholte Julians Bitte: »Erzählt es uns.«
Und so berichteten ihnen Charles und Daphne von Katherine und Sir Wesley. Alles. Als sie fertig waren, gab es eine lange, nachdenkliche Pause.
Marcus nippte von seinem Brandy, und Julian starrte ins Feuer. Nell hielt Daphnes Hand.
»Geister«, sagte Marcus nach mehreren nervenzermürbenden Augenblicken.
»Katherine und Sir Wesley«, murmelte Nell und schaute ins Leere.
»Himmel, warum zum Teufel eigentlich nicht?«, wollte Julian von niemand Bestimmtem wissen. »Das ergibt genauso viel Sinn wie alles andere, was bislang geschehen ist.« Mit einem fragenden Blick zu Charles erkundigte er sich: »Und du glaubst, es war Sir Wesley, das, was wir auf dem Treppenabsatz gespürt haben? Und dass er Adrian die Treppe hinuntergestoßen hat?«
Charles nickte. »Allerdings. Vergiss nicht, ich habe seine Gegenwart schon vorher gespürt, und es ist kein Gefühl, das man leicht vergisst.«
»Aber warum?«, rief Daphne. »Warum hat er ausgerechnet einen Jungen angegriffen?«
»Weil Adrian die Wand einreißen will«, erwiderte Charles ruhig.
Daphnes Augen wurden groß. »Natürlich! Sir Wesley will nicht, dass wir entdecken, was sich dahinter befindet.«
»Aber was könnte so schrecklich sein, dass dieser … dieser Geist auch jetzt noch nicht will, dass wir es herausfinden?«, wollte Marcus wissen. Er schüttelte den Kopf. Sah in
seinen Brandy, schloss die Augen und sagte halblaut: »Ich kann nicht glauben, dass ich diese Frage gestellt habe. Erst kommt Nell mit ihren Albträumen und dann jetzt Geister!« Fast flehend fragte er: »Sehnt sich noch jemand außer mir nach dem Tag, an dem die einzig unerklärlichen Dinge Parlamentsbeschlüsse und das Wetter sind?«
»Aber denk doch nur, wie langweilig das wäre«, zog Charles ihn auf.
»Ich mag langweilig «, beschwerte Marcus sich. »Ich mag mein Leben ruhig, geordnet und normal .«
»Das ist schade«, entgegnete Julian und betrachtete Marcus mit freundlicher Belustigung. »Wenn du
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