Woge der Begierde
Nell lächelnd.
»Äh, nein«, sagte Marcus. »Es hat einen Unfall gegeben.«
Nells Lächeln verblasste. »Julian?«, fragte sie atemlos.
Marcus schüttelte den Kopf und schaute zu Daphne.
Daphnes Herz setzte aus, und sie hatte das Gefühl, gleich ohnmächtig zu werden. »Charles? Wo ist er? Ich muss zu
ihm!« Sie holte tief Luft und wollte dann ängstlich wissen: »Ist er am Leben?«
»Oh, es ist nicht halb so ernst. Ich wollte euch nicht unnötig beunruhigen. Alles ist in bester Ordnung«, beeilte sich Marcus zu sagen. »Nun, nicht wirklich in Ordnung«, verbesserte er sich und fragte sich, warum er es eigentlich sein musste, der die schlechten Nachrichten überbrachte. »Adrian hat das meiste abbekommen - er hat sich den Arm gebrochen und den Knöchel verknackst.«
Adrian und Charles stolperten über die Türschwelle, und beim Anblick von Charles’ blutverschmiertem Gesicht schrie Daphne auf. »Oh, Charles! Mein Liebster! Was ist geschehen?« Sie hatte nur Augen für Charles und eilte quer durch das Zimmer zu ihm.
Sie umklammerte seinen Arm und schaute ihm suchend ins Gesicht. »Wenn dir irgendetwas zugestoßen wäre …« Sie drängte die Gefühle zurück, die ihr die Kehle zuschnürten. Er war in Sicherheit, und das war alles, was im Augenblick zählte.
»Es ist nur ein Riss auf der Stirn«, erklärte Charles, ohne den Blick von ihrem Gesicht abzuwenden. »Adrian ist es schlimmer ergangen.«
»Ja?«, erkundigte sie sich abgelenkt, gönnte ihrem Bruder, der von Marcus und Julian vorsichtig auf einen Stuhl gesetzt wurde, aber kaum einen Blick. April und Miss Kettle standen besorgt daneben und warteten darauf, seine Wunden zu versorgen.
»Dein armes Gesicht«, sagte sie und sah wieder ihn an.
Charles berührte seine Augenbraue und verzog das Gesicht. »Ich hatte schon schlimmere Wunden.« Er grinste. »Und es hat sich gelohnt, Daphne. Diese Treppe ist faszinierend. Wir haben Absätze gefunden, auf denen die Bogenschützen
standen und die Mauerscharten, durch die sie auf die Feinde geschossen haben. Und am besten ist, wir haben vermutlich eine Geheimkammer entdeckt.«
Charles schaute sie zärtlich an, er war überglücklich. Er wollte jetzt nicht über seine Verletzungen sprechen oder über die verflixte Treppe und was sie entdeckt hatten. Was er wirklich wollte, war, sie auf die Arme zu heben und sie mit sich zu nehmen, irgendwohin, wo sie allein waren. Einen Ort, an dem sie all die verheißungsvollen Möglichkeiten näher erforschen konnten, die Adrians Bemerkung geweckt hatte. Es war ihm nicht entgangen, dass sie ihrem Bruder kaum Aufmerksamkeit schenkte. Sie konzentrierte sich ganz auf ihn. Der Drang, sie in die Arme zu schließen und ihr seine Liebe zu gestehen, wurde beinahe übermächtig, und alles, was er tun konnte, war, wie er angewidert zugeben musste, dazustehen und von der blöden Treppe zu faseln und wie ein Idiot zu grinsen.
Ihre Sorge ließ mit jeder Sekunde nach, die verstrich. Daphne merkte, wie an ihre Stelle Verärgerung trat. Er hätte sterben können. Er hatte ihr einen Heidenschreck eingejagt. Und er hatte jede Minute davon genossen, erkannte sie, als sie sein Grinsen und das Glitzern in seinen Augen sah. Der verflixte Schuft.
Das Blutrinnsal fiel ihr auf, und ihr Herz zog sich zusammen. »Tut die Schramme sehr weh?«
»Ja«, antwortete er und freute sich schon auf ihre liebevolle Fürsorge.
Ihre Augen wurden schmal. »Gut«, erklärte sie knapp. »Ich habe dir gesagt, du solltest bis morgen warten!«
19
E s war unmöglich, die Entdeckung geheim zu halten. Die Treppe gab es, und zur Erforschung wären die Dienste mehrerer kräftiger Lakaien nötig. Außerdem wurde Goodsons Hilfe gebraucht, um die notwendigen Gegenstände zu beschaffen und Adrians und Charles’ Wunden zu versorgen. Sobald dem Butler die Sachlage erläutert worden war und er die Erlaubnis erhalten hatte, den Rest der Dienerschaft zu unterrichten, wusste Daphne, dass die Neuigkeit sich bis zum Anbruch des Tages weit über die Grenzen von Beaumont Place verbreitet haben würde.
Aufregung war bei der Nachricht im ganzen Haus zu spüren, und nachdem Goodson die Beseitigung des Schutts aus Daphnes Schlafzimmer angeordnet hatte, hätte es beinahe einen Aufstand unter den Dienern gegeben, die alle unbedingt die Geheimtür sehen wollten. Goodson hatte das Chaos mit einem gestrengen Blick rasch wieder unter Kontrolle und traf seine Wahl; er entschied sich für zwei Lakaien, die die größeren Steine fortschafften
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