Woge der Begierde
Zu ihrer Überraschung zog sich der Nebel leicht zurück. Ihr ursprüngliches Entsetzen ließ nach, ihre Vernunft kehrte zurück, und ihre Neugier erwachte, sodass sie einen weiteren Schritt nach vorne machte, worauf sie erfreut bemerkte, dass der Nebel weiter zurückwich. Erkühnt von ihrem Erfolg deutete sie mit einem Finger auf den Nebel und sagte: »Verschwinde! Du bist hier nicht erwünscht.«
Zu ihrer Verwunderung und nicht geringen Erleichterung löste sich der nebelige Bereich vor ihr auf. Sie spürte
eine Bewegung an der gegenüberliegenden Wand, aber als sie in die Richtung sah, konnten ihre Augen die Dunkelheit nicht durchdringen, die zwischen ihr und dem lag, was auch immer in ihrem Schlafzimmer gewesen war.
Nachdem die … Erscheinung verschwunden war, stellte sie fest, dass auch die durchdringende Kälte verflogen war. Im Zimmer war es kühl, aber das war nur die normale Kälte, mit der man rechnete, nicht die bis ins Mark dringende Frostigkeit, die sie eben noch geplagt hatte.
Das ist alles gut und schön, dachte Daphne, während sie zum Kamin eilte, aber was, zum Teufel, ist eben gerade geschehen? Die Reaktion auf das Erlebte setzte jetzt erst ein, und sie begann am ganzen Körper zu zittern, ihre Zähne schlugen aufeinander, und ihre Hände bebten so heftig, dass es eine Weile dauerte, ehe sie die Kerzen anzünden konnte. Erst als das Zimmer hell erleuchtet war, hörte das Zittern auf, und ihr Unbehagen ließ nach. Sie warf mehr Holz ins Feuer und zog sich ihren schweren dunkelgrünen Wollmorgenrock über.
Sie blieb in der Nähe des Feuers und hielt ihren Blick auf die Stelle an der Wand gerichtet, wo sie die Erscheinung zum Schluss gesehen … nein, eigentlich eher gespürt hatte. Es war mehr Mut nötig, als sie zu besitzen geglaubt hatte, um das Zimmer zu durchqueren und diesen Teil der Wand zu untersuchen. Mit einer Kerze in der Hand betrachtete sie die Wand. Auf den ersten Blick schien die Mauer ganz gewöhnlich, aber als sie länger hinsah, entdeckte sie in der Mitte der mit einem chinesischen Muster bedruckten Tapete eine feine Linie, dünn wie ein Haar, die, wie sie dachte, als sie mit dem Finger darüberfuhr, vielleicht früher mal der Umriss einer Tür gewesen sein konnte … ihr Herz begann heftig zu klopfen, und ihr stockte der Atem.
Hör auf! , befahl sie sich. Da ist nichts, absolut nichts Unheimliches daran. Das Haus ist alt, viele Jahrhunderte alt - vielleicht hat es hier irgendwann einmal eine Tür gegeben - sie konnte zu einem anderen Schlafzimmer oder einem Wohnraum geführt haben. Das alles muss nichts heißen. Absolut gar nichts. Sie schluckte. Hoffentlich.
An Schlaf war nicht mehr zu denken. Sie setzte sich in einen Stuhl vor dem Kamin und starrte entweder in die Flammen oder auf die Stelle der Wand mit dem kaum erkennbaren Umriss einer Tür. Ich habe kein Gespenst gesehen, sagte sie sich immer wieder. Ich glaube nicht an Gespenster. Was auch immer ich zu sehen geglaubt habe, ist mit Müdigkeit zu erklären, meiner mangelnden Vertrautheit mit dem Zimmer … oder es war schlicht Einbildung. Es gibt eine Reihe logischer Erklärungen für das, was ich meine gesehen und gehört zu haben. Da war außer mir nichts im Raum. Ich kann dieses abartige … Gesäusel, oder was auch immer es war, nicht wirklich gehört haben, und ich kann auch kein Gespenst gesehen haben - es war ein Streich, den mir meine Sinne gespielt haben.
Und wenn du das so felsenfest glaubst, schnurrte eine listige Stimme in ihrem Kopf, warum gehst du dann nicht in dein Bett zurück und legst dich wieder schlafen?
Sie holte tief Luft. Weil , gestand sie sich ein, ich nicht einschlafen will und davon aufwachen, dass es irgendwelchen Unsinn brabbelnd neben meinem Bett schwebt. Ich weiß, dass es meine Einbildung war … Ja, es muss Einbildung gewesen sein - ich neige wahrlich nicht zu hysterischen Phantasien, erinnerte sie sich fest. Daher muss es Einbildung gewesen sein. Sie war übermüdet und schlief in fremder Umgebung, einer Umgebung, die sicherlich zu seltsamen Wahrnehmungen einlud, und ihre Phantasie war
mit ihr durchgegangen - das musste die Erklärung sein. Doch trotz ihrer rationalen Überlegungen konnte Daphne die Gewissheit nicht abschütteln, dass sie ein leises Weinen in der Dunkelheit gehört, irgendetwas gesehen hatte. Sie biss sich auf die Unterlippe. Da musste etwas gewesen sein, etwas, das auf ihre Stimme und ihre Taten reagiert hatte. Sie erschauerte. Sie wollte, dass sich das, was gewesen
Weitere Kostenlose Bücher