Woge der Begierde
Nachts den ganzen Haushalt mit ihrem Geschrei aus dem Schlaf gerissen hat, weil angeblich ein Gespenst in ihrem Zimmer gewesen sei und sie im Gesicht berührt habe. Es war natürlich alles Unfug und diente einzig dazu, Aufmerksamkeit zu erregen - sie war mit ihren Eltern auf Besuch, und es gab Gerüchte, dass Sir Huxley kurz davor
stand, ihr einen Antrag zu machen. Danach wurde natürlich nichts mehr daraus.«
»Natürlich«, wiederholte Daphne und starrte auf die glänzende Tischplatte ihres Schreibtisches. »Nun, danke, Mrs. Hutton. Sie sind sehr hilfreich gewesen, aber ich würde es sehr begrüßen, wenn Sie dafür sorgen könnten, dass keine dieser Geschichten zu Sir Adrian oder meiner Schwester dringen. Adrian hielte es am Ende für ein wunderbares Abenteuer, aber April ist sehr empfänglich für genau diese Sorte Geschichten; ich weiß, dass sie davon Angst bekäme.« Sie lächelte. »Und mein Bruder würde es nicht lassen können, sie aufzuziehen mit Geistern, Trollen und nächtlichen Geräuschen.«
»Das verstehe ich«, erwiderte Mrs. Hutton mit einem antwortenden Lächeln. »Wäre das dann alles?«
Daphne entließ sie, und nachdem die Haushälterin den Raum verlassen hatte, saß sie da und starrte auf den Schreibtisch, als stünden dort die Antworten auf ihre Fragen. Wenigstens wusste sie nun, dass es schon häufiger vorgekommen war, dass auf Beaumont Place Gespenster gesehen worden waren, überlegte sie und lächelte dabei über sich selbst. Dann musste sie an Mrs. Huttons Verachtung denken, mit der sie die überreizte junge Dame aus London erwähnt hatte, und schwor sich, kein Wort über das zu verlieren, was sie vielleicht gesehen hatte.
Sie blickte aus dem Fenster und war sich bewusst, dass die Zeit dahinflog. Es waren mehrere Stunden bis zur Schlafenszeit … mehrere Stunden, ehe sie wieder eine Nacht in dem Zimmer verbringen musste, und sie erschauerte, wenn sie sich vorstellte, aufzuwachen und wieder das Gespenst zu sehen. Sie konnte natürlich um ein anderes Schlafzimmer bitten … sie schnitt eine Grimasse. Welchen Grund sollte
sie dafür angeben? Es war schließlich ein sehr schönes Zimmer … wenn sie es für sich allein haben konnte und nicht mit einem Gespenst teilen musste … oder was auch immer. Sie schob ihr Kinn vor. Außerdem, dachte sie, sagt mir die Vorstellung nicht zu, aus meinem eigenen Schlafzimmer vertrieben zu werden.
Sie hatte etwas Zeit zur Verfügung, weshalb sie nach Goodson läutete und sich von ihm die Bibliothek zeigen ließ, wo die Sammlung aufbewahrt wurde, die Sir Huxleys Mutter zusammengetragen hatte.
Die Bibliothek war ein beeindruckender Raum. Axminster Teppiche in gedämpften Rosa- und Blautönen sowie Creme lagen auf den schimmernden Böden, und deckenhohe Eichenregale säumten die Wände. An den Fenstern hingen taubengraue Vorhänge. Die langen Reihen der Bücherrücken - blaues, grünes, goldfarbenes und rotes Leder - boten dem Auge Abwechslung, und ein riesiger Kamin aus grau gemasertem Marmor beherrschte das eine Ende des Raumes. Seidenholztische in verschiedenen Größen und Höhen standen hier und dort, und Sessel und Sofas mit weinroten und saphirblauen Samtbezügen waren im Zimmer verstreut.
Trotz der Pracht und Größe der Bibliothek fühlte sich Daphne sogleich zu Hause, und sie konnte sich gut vorstellen, einen Winternachmittag mit hochgezogenen Beinen in der Nähe des Feuers lesend zu verbringen. Der Umfang der Sammlung von Sir Huxleys Mutter drohte sie jedoch zu entmutigen, und während sie vor dem Regal voller Andenken und Briefe, Tagebücher und sonstigem Nachlass der Familie Beaumont stand, der mit so viel Liebe zusammengestellt worden war, seufzte sie. Sie würde Jahre benötigen, sie durchzugehen.
Sie starrte das Regal mehrere Sekunden an, dann nahm sie die Schultern zurück. Am besten fing sie gleich an.
Als sie am Abend mit ihren Geschwistern das Dinner einnahm, schmerzte ihr Kopf, und ihre Augen brannten. Die schnörkelige Handschrift mancher Mitglieder der Familie zu entziffern war an sich schon eine Herausforderung, einmal abgesehen davon, dem Entzifferten Sinn zu entnehmen. Nach den Stunden, die sie damit verbracht hatte, sich durch langweilige Schilderungen von Gesellschaften zu kämpfen, Beschreibungen von Kleidern und dem letzten Klatsch über Leute, die längst tot waren, schien ihr der Besuch eines Gespenstes fast als wünschenswerte Abwechslung.
So empfand Daphne allerdings nicht mehr, als sie am selben Abend schließlich
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