Woge der Begierde
ihre Schlafzimmertür hinter sich schloss. Sie zündete alle Kerzen an, und nachdem sie in ihr Nachthemd geschlüpft war, setzte sie sich ans Feuer, entschlossen, die ganze Nacht lang Wache zu halten. Trotz ihres festen Entschlusses ließ ihr Körper sie im Stich, sodass sie tief und fest schlief, als die Uhr Mitternacht schlug.
Sie wachte kurz vor dem Morgengrauen auf und sah sich müde im Zimmer um. Nachdem sie verschlafen die fast niedergebrannten Kerzen gesehen hatte, entschied sie, dass für die Nacht nicht mehr mit gespenstischem Besuch zu rechnen sei. Sie schlüpfte aus ihrem Morgenrock, legte ihn aufs Bett und kroch unter die Decken, wo sie sogleich wieder einschlief.
Bis zum Ende der Woche hatte es keine weiteren Vorfälle gegeben, und Daphne war bereit, einzuräumen, dass sie sich vielleicht doch alles nur eingebildet hatte. Natürlich waren da noch die Geschichten … Geschichten, die Mrs. Hutton und Goodson als Unsinn abtaten, und wenn sie nichts darauf
gaben, dann würde sie sie auch auf sich beruhen lassen. Fürs Erste.
Weil sie nicht gewusst hatte, wo sie bei der Durchsicht der Papiere beginnen sollte, hatte sie am Ende angefangen, da, wo die Sammlung von Sir Huxleys Mutter aufhörte, etwa vor zwanzig Jahren. Von da aus arbeitete sie sich rückwärts vor. Die Arbeit erwies sich nicht als die Prüfung, die sie befürchtet hatte, sondern stellte sich sogar als zeitweise interessant und unterhaltsam heraus und verhalf ihr zudem zu besserer Kenntnis der Familie, deren Mitglied sie war. Doch als es keine weiteren Störungen ihrer Nachtruhe gab, begann sie die Weisheit des Entschlusses infrage zu stellen, sich stundenlang in der Bibliothek zu vergraben. Sie war etwa bis zu den Lebzeiten von Sir Huxleys Großvater vorgedrungen und wollte nun dorthin kommen, wo es zum Bruch gekommen war, aber das Wetter war schön, lud dazu ein, die letzten angenehmen Herbsttage draußen zu verbringen. Da es zudem keine weiteren nächtlichen Besuche gegeben hatte, schob sie ihre Untersuchung auf. Sie nahm sich fest vor, sich wieder den Briefen zu widmen, sobald der Winter eingekehrt war, und stellte sie zurück ins Regal.
Daphne und ihre Geschwister lebten sich rasch in Beaumont Place ein. Sie fügten sich mühelos in ihr neues Leben ein und dachten kaum noch an London. Während die Wochen verstrichen, lernten sie mehrere Mitglieder des örtlichen Landadels kennen, einige Nachbarn und alle ihre Pächter. Zwischen Beaumont Place und Vikar Henleys Haus herrschte bald schon ein reges Hin und Her, da Adrian sich mit den beiden älteren Söhnen des Geistlichen angefreundet hatte, die beide in seinem Alter waren - Quentin mit achtzehn ein paar Monate älter, und Maximilian ein Jahr
jünger. April hatte in der fünfzehnjährigen Rebecca Henley eine Freundin gefunden, der ältesten Tochter der Familie mit der zahlreichen Nachkommenschaft. Und Daphne genoss es, Mrs. Henley zu besuchen, eine ihrer Ansicht nach äußerst vernünftige Frau. Während Mrs. Henley also überaus vernünftig und praktisch veranlagt war, so fand Daphne den Vikar selbst, einen großen lauten Mann, einfach herrlich. Er hatte sie herzlich willkommen geheißen und in die Nachbarschaft eingeführt. Manchmal verspürte Daphne leise Gewissensbisse angesichts der Großzügigkeit, die der Vikar ihnen erwiesen hatte, seit sie ihn aufgesucht hatte, um ihn über Beaumont Place auszufragen und unheimliche Geschichten, die er vielleicht dazu gehört hatte. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass sich eine so freundschaftliche Beziehung zwischen den beiden Familien entwickeln könnte und sie den Vikar und seine Gattin schon nach kürzester Zeit zu ihren engen Freunden zählen würde. Als sie ihn zögernd angesprochen hatte, hatte sie der Vikar nur zu bereitwillig mit ein paar haarsträubenden Geschichten über Beaumont Place ergötzt, die in die blutrünstige Zeit zurückreichten, als Cromwells Rundköpfe gegen Charles I. und dessen Truppen gekämpft hatten. Die Geschichten waren aufregend und spannend, aber sie enthielten nichts, was Daphnes Meinung nach Licht auf ihr Erlebnis warf; allerdings horchte sie auf, als der Vikar auf alte Gerüchte über versteckte Treppen und Geheimtüren zu sprechen kam … aber da der Geist oder was auch immer es gewesen war sich still hielt, hatte sie nichts dagegen, die ganze Angelegenheit beiseitezuschieben und einfach ihr Leben und ihre neuen Freunde zu genießen.
Die Weihnachtsfeiertage waren eine fröhliche Zeit für die drei
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