Woge der Begierde
Charles sich gut vorstellen konnte, wie es ihr ging, trat er einen Schritt zur Seite und rief Adrian zu: »Es wird eine Weile vergehen, bis wir hier wegkommen. Ehe Sie anfangen, seien Sie doch so nett und werfen durch die Öffnung ein paar Decken und etwas zu essen?« Er blickte in die erlöschenden Flammen und fügte hinzu: »Und wenn es etwas Holz gibt, nehmen wir das auch gerne. Ich denke, Ihre Schwester hätte es dann hier bequemer, während wir warten.«
Adrian stimmte zu, und ein paar Minuten später wurden eine schwere Steppdecke, ein paar Wolldecken, eine Fackel und mehrere Stück Treibholz sowie ein Korb randvoll mit Essen zu Charles herabgelassen. Der Korb enthielt eine Flasche Wein, etwas Brot und Käse, kaltes Hühnchen und Obst. Ein einfaches Mahl, aber Daphne fand, dass sie nie zuvor etwas so Himmlisches gekostet hatte.
Die Arbeiten an der Öffnung begannen, das Geräusch der Spitzhacke auf Felsen hallte durch die Höhle. Charles
hatte die Fackel angezündet, so dass sie den Fortschritt in deren Licht verfolgen konnten. Es konnte ohne Zwischenfälle gearbeitet werden, und Daphne erschien es, als sei das Loch inzwischen fast doppelt so groß wie noch kurz zuvor.
Da Rettung in Sicht war, schob Daphne ihre Vorbehalte beiseite und lächelte Mr. Weston zu. »Wir sind wirklich binnen Kurzem hier heraus.«
Sobald die Worte jedoch ihre Lippen verlassen hatten, ertönte ein unheilvolles Grollen und Knirschen. Erschreckt blickte sie hoch. Die Höhlendecke schien herabzukommen, riesige Felsblöcke, Steine und ein Regen aus Staub und Schmutz ging auf sie hernieder.
Charles machte einen Satz auf Daphne zu, packte sie und zerrte sie aus dem größten herabfallenden Geröll weg. Die Luft war voller Staub, sodass sie beide husteten.
Das Dröhnen und Grollen dauerte nur wenige Sekunden, dann herrschte völlige Stille. Als sie im Fackelschein nach oben schaute, sank Daphne das Herz. Es war keinerlei Öffnung mehr zu erkennen. Vor ihnen erhob sich eine massive Wand aus Steinen und Felsbrocken. Der Rückweg war ihnen abgeschnitten.
Betroffen blickte sie Charles an. Er hatte ebenfalls die Mauer betrachtet. Da er ihren Blick spürte, sah er sie an.
Ihre Stimme bebte nur kaum merklich, als sie erklärte: »Es sieht aus, als dauerte es ein wenig länger, als wir dachten, bis wir befreit werden.«
»Allerdings; ich fürchte, da haben Sie recht«, antwortete er langsam und erkannte den Pfad, den das Schicksal ihm bestimmt hatte. Sie konnten von Glück reden, wenn sie bei Tagesanbruch die Höhle verlassen konnten - was bedeutete, dass er die Nacht mit Miss Daphne Beaumont verbringen
würde - allein. Als Mitglied einer stolzen adeligen Familie wusste Charles, was die Ehre von ihm verlangte, wenn sie dann gerettet waren. Seltsamerweise empfand er nicht die leiseste Sorge angesichts dieser Aussicht. Was er jedoch verspürte, war eine Mischung aus Vorfreude und Belustigung, als er sich Daphnes Gesichtsausdruck vorstellte, wenn sie begriff, welche Folgen diese Nacht zeitigen würde. Irgendwie hatte er die dumpfe Vorahnung, dass sie nicht unbedingt glücklich sein würde, wenn sie erkannte, dass die Gesellschaft, um einen Skandal zu vermeiden, eine Heirat von ihnen verlangen würde. Er grinste. Und es würde ihm größte Freude bereiten, sie umzustimmen. Ach, ich liebe Herausforderungen!
5
O hne viel miteinander zu sprechen verbrachten Charles und Daphne eine nicht allzu ungemütliche Nacht; sie schliefen auf dem Boden der Höhle. Daphne hatte sich züchtig in die schwere Steppdecke gewickelt, während er sich mit den dünneren Decken begnügte. Der Korb mit dem Essen und die Fackel erwiesen sich als echter Glücksfall. Das Feuer war kurz vor dem Morgengrauen ausgegangen, aber da sie die Fackel für genau diesen Fall aufgespart hatten, mussten sie die verbleibenden Stunden nicht im Stockfinstern sitzen. Und als sie am Morgen aufwachten, waren noch Brot und Käse und ein paar Schlucke Wein von der vergangenen Nacht übrig, sodass sie auch etwas essen und trinken konnten.
Charles’ Einschätzung, wie lange es bis zu ihrer Rettung dauern würde, war optimistisch gewesen. Sie mussten eine weitere immer unbequemer werdende Nacht voller Sorge ausharren, ehe ihre Geduldsprobe vorüber war. Am zweiten Tag wurde es später Nachmittag, bevor Adrian und die anderen schließlich die Wand aus aufgetürmten Felsbrocken und Steinen durchbrachen. In diesen langen Stunden vor ihrer Rettung war ein seltsames Gefühl der Vertrautheit
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