Woge der Begierde
heiraten. Er fragte sich insgeheim, ob er beleidigt sein sollte.
»Ich sehe«, stellte er trocken fest, »dass die Idee, mich zu heiraten, Ihnen nicht zusagt.«
Verlegen wusste Daphne nicht, was sie darauf antworten sollte. Jeden Traum von Liebe oder Heirat, den sie je gehegt hatte, hatte sie schon vor Jahren aufgegeben. Das Wohlergehen ihrer Geschwister hatte ihr Leben bestimmt, und all ihre Energie hatte sie dafür aufgewandt, ihre Zukunft zu sichern. Sie war mit der Rolle als Vormund für ihren Bruder und ihre Schwester vollauf zufrieden, und nicht ein Mal seit dem Tod des jungen Leutnants hatte sie etwas anderes in Erwägung gezogen. Dass ihre Lebensumstände sich ändern könnten, war ihr schlicht nicht in den Sinn gekommen. Und dass jemand von Charles Westons Art - offensichtlich ein Mann von Welt, elegant und vornehm, einflussreich - um sie anhalten könnte, selbst unter
Berücksichtigung der besonderen Umstände, überstieg ihr Begriffsvermögen.
Daher griff sie auf etwas zurück, was er eben gesagt hatte und fragte: »Adrian? Adrian weiß hiervon?«
Charles nickte. »Genau. Sie glauben doch nicht, ich würde Ihnen einen Heiratsantrag machen, ohne mir die Erlaubnis Ihres Bruders eingeholt zu haben, oder?«
»Auch wenn ich als Frau nur ein niederes Wesen bin, überrascht es mich doch, da ich nun einmal sein Vormund bin, dass er eifrig damit beschäftigt ist, meine Zukunft zu planen«, entgegnete sie leicht düpiert.
»Ihm blieb nichts anderes übrig, und außerdem gehörte es sich, dass er daran beteiligt wurde.« Charles hob eine Braue. »Schließlich ist er das Oberhaupt Ihrer Familie.«
Daphnes Augen sprühten wütende Blitze. Was für eine alberne Vorstellung! Ihr kleiner Bruder Adrian entschied über ihre Zukunft, wo doch sie jahrelang alle wichtigen Entscheidungen in ihrem Leben getroffen hatte. Es war unerhört! Ehrlichkeit zwang sie einzuräumen: »Ja, ich nehme an, dass er das ist, aber praktisch habe ich seit einiger Zeit schon als Oberhaupt der Familie gehandelt.« Ohne ihn anzusehen, fügte sie hinzu: »Und während ich die Feinheiten der Lage begreife, bin ich doch nicht bereit, mich bei einer so wichtigen Angelegenheit von einem Siebzehnjährigen leiten zu lassen!«
»Dann lassen Sie sich vielleicht lieber vom Vikar und seiner Gattin leiten? Beide sind der Ansicht, dass eine Ehe zwischen uns die einzige Chance ist, einen anhaltenden Skandal zu vermeiden.« Charles entging ihr trotzig verzogener Mund nicht, und er war zwischen Belustigung und dem starken Drang, sie zu schütteln, hin- und hergerissen. »Der Vikar und seine Gattin haben die Sache mit mir vergangene
Nacht besprochen. Sie meinen, der einzige Ausweg aus dieser unseligen Lage ist eine Heirat zwischen uns … und das so rasch wie möglich. Mrs. Henley hat darauf hingewiesen, dass, je länger wir mit der Bekanntgabe unserer Verlobung warten, desto mehr die Leute reden werden und desto mehr Schaden Ihr Ruf und Ihr Ansehen in der Gemeinde nehmen wird.«
Daphne biss sich bekümmert auf die Unterlippe. Dass der Vikar und seine Frau, zwei Menschen, auf die sie große Stücke hielt, es für nötig hielten, dass sie Mr. Weston heiratete, warf auf die Sache ein völlig neues Licht. Sie begann im Zimmer umherzulaufen.
Schließlich blieb sie vor ihm stehen und blickte auf in seine dunklen Züge. Einen langen Moment schaute sie ihm forschend ins Gesicht, fragte sich, ob sie am Ende in einen Albtraum geraten war. Diesen Mann heiraten? Diesen Fremden mit den kühlen grünen Augen und dem unnachgiebigen Kinn? Sie wusste nur wenig von ihm - außer, dass er sein Leben riskiert hatte, um bei ihr zu bleiben.
Es war keine einfache Lage, in der sie sich befand, dachte sie unglücklich. Wenn sie nur an sich selbst zu denken hätte, würde sie am Ende alle Vorsicht in den Wind schlagen und den Forderungen der Gesellschaft nachgeben, aber sie durfte nicht nur an sich denken … Wenn sie diesen Mann heiratete, diesen Mann, den sie weniger als zweiundsiebzig Stunden kannte, läge nicht nur ihre Zukunft in seinen Händen, sondern die ihrer Geschwister auch. Konnte sie ihm trauen, sie fair zu behandeln? Begriff er, dass er, wenn er sie heiratete, nicht nur eine Frau bekäme, sondern auch für eine Reihe von Jahren noch für ihren Bruder und ihre Schwester verantwortlich wäre? Sie musste auch an deren Zukunft denken. Und was war mit Beaumont Place? Wollte
er etwa sie, Adrian und April nach der Himmel weiß wohin verpflanzen und Adrians Heim und seinen
Weitere Kostenlose Bücher