Wogen der Leidenschaft - Roman
ein Stück zurechtgerückt. Das Ersteigen von Bergen und das Durchwaten von Wasserläufen riefen Emma verlässlich in Erinnerung, dass ein einzelnes Leben im größeren Zusammenhang des Universums unbedeutend war und dass die Probleme, mit denen sie es meist zu tun hatte, mit den Augen von Mutter Natur betrachtet ganz klein wurden.
Wandern würde ihr aber heute nicht helfen, deshalb unternahm sie stattdessen eine Shopping-Tour.
Sie flog hinunter nach Bangor, landete auf dem Pushaw Lake und erbettelte sich von jemandem im Wasserflughafen einen Wagen. Sodann bummelte sie den ganzen Morgen auf der Einkaufsstraße dahin, labte sich an Fastfood und probierte Schuhe an, die ihren Füßen Qualen bereiteten. Und zum ersten Mal seit über zehn Jahren betrat Emma einen Laden für Wohnungsausstattung und erstand dekorative Haushaltstücher.
Schließlich steuerte sie eine Boutique an. Nach über einer Stunde und mehr Mut, als sie sich zugetraut hatte, fiel ihre Wahl auf ein Kleid, das sie nach dem bevorstehenden Abend wohl verbrennen würde.
Auf dem gesamten Heimflug lag die Tüte aus der Boutique neben ihr. Die Verkäuferin und sogar einige Kundinnen hatten ihr zugeredet, das Kleid zu kaufen, und nun drohte ihr Mut sie zu verlassen, je näher ihr Flugziel rückte. Was hatte sie sich eigentlich dabei gedacht? Beherrschte plötzlich eine sextolle Fee ihren Verstand? Sie konnte das verdammte Kleid niemals in der Öffentlichkeit tragen.
Sie würde es vor dem heutigen Abend verbrennen müssen.
Emma vollführte mit der Maschine eine Schrägkurve und brach ihren Anflug auf Medicine Creek Camps ab, um längs des Sees zurückzufliegen. Es war Zeit für einen Besuch bei Greta.
» Sieh mal einer an, was mein Kater angeschleppt hat.«
» Der arme alte Kerl könnte keine Grille fangen. Ich habe ihn hereingebracht.«
» Jetzt hast du deine gute Tat für den Tag vollbracht und kannst mit mir Tee trinken, Emma Jean. Ich habe eben einen Karottenkuchen fertig.«
» Kein Wunder, dass Wayne Poulin und Sheriff Ramsey in letzter Zeit so rund geworden sind. Du fütterst sie zu gut, Greta.«
Greta LaVoie tat dies mit einer Handbewegung ab und bot Emma einen Platz an. Die zierliche Frau hob den Kessel vom Herd und ließ ihn mit Wasser volllaufen. Mit Bewegungen, die ihre fünfundsiebzig Jahre Lügen straften, eilte sie an ihren Geschirrschrank und stellte Teegeschirr auf ein Tablett.
Emma tat, wie ihr geheißen. Sie platzierte ihre Tüten auf dem Boden neben sich, saß in behaglicher Stille da und wartete, dass die einzige Mutterfigur, die sie je gekannt hatte, sie bemutterte. Es war genau das, was sie brauchte. In dieser abgewohnten alten Pension war Emma immer wie eine Prinzessin behandelt worden. Greta hatte Emma liebkost und verwöhnt, seit sie sechs war. Zerschundene Knie, gebrochene Herzen und den einen oder anderen Biss eines Eichhörnchens waren hier von einer Frau kuriert worden, die sich in vierundzwanzig Jahren nicht verändert hatte. Zeitlos und konstant wie der Medicine Lake selbst war Greta LaVoie Emmas Zuflucht gewesen.
Zuneigung und Fürsorge beruhten auf Gegenseitigkeit.
Sechs Jahre zuvor hatte Greta ihre Lebenspartnerin verloren und sich in ihrem Kummer auf Emma gestützt. Sable Jones war im Ort nachsichtig als Gretas Schwester akzeptiert worden, obwohl alle die Wahrheit gekannt hatten. Vor vierzig Jahren, als die zwei Frauen sich in Medicine Gore niedergelassen hatten, war gleichgeschlechtliches Zusammenleben noch kein Thema gewesen, und die beiden waren rasch Teil der eng miteinander verbundenen Dorfgemeinschaft geworden. Die zwei Frauen hatten dieses alte Haus gekauft und eine Pension eröffnet, in der meist ledige Holzarbeiter wohnten, die bekocht und betreut werden wollten. Nach Sable Jones’ Ableben war der ganze Ort zu ihrer Beerdigung gekommen und hatte den Verlust betrauert.
» Na, wie geht’s draußen in Medicine Creek?«, erkundigte sich Greta, als sie zwei große Kuchenstücke abschnitt und sie aufs Tablett tat.
» Gut. Greta, ist dir je aufgefallen, dass Wayne Poulin Post von auswärts bekommen hat?«
Wayne wohnte schon fast fünfzehn Jahre lang bei Greta, und Emma hatte sich über Wayne und Kelly und Bens Brief Gedanken gemacht.
» Sicher. Er bekommt viel Post von auswärts. Er steht mit Forstexperten aus der ganzen Welt in Verbindung. Warum?«
» Ist dir zufällig aufgefallen, ob er jemals Post von… Kelly bekommen hat?«
Greta, die mit dem Geschirr beschäftigt war, hielt inne und sah Emma an.
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