Wogen der Liebe
zerrte sie an seinem Körper.
Vor Schmerz schrie Yngvar auf, doch es brachte ihn zu Bewusstsein. Mit letzter Kraft erhob er sich. Auf Viviane gestützt, wankte er zu seinem Pferd. Er legte sich über den Pferderücken, Viviane schob sein Bein hinauf, bis er endlich saß. Dann nahm sie das Pferd am Zügel und führte es aus der Höhle.
Der Rückweg war lang und beschwerlich. Immer wieder sackte Yngvar zusammen, war kaum bei Bewusstsein. Viviane befürchtete, dass er vom Pferd fallen könnte. Noch einmal würde sie es nicht schaffen, ihm hinaufzuhelfen. Ihre Schuhe lösten sich endgültig auf, mit jedem Schritt verlor sie Fetzen, bis sie barfuß durch den Schnee lief. Sie spürte ihre Füße nicht mehr, sie spürte überhaupt nichts mehr. Sie wurde nur noch von der Angst getrieben, Yngvar könnte sterben.
Sie vertraute dem Pferd, das den Rückweg besser kannte als sie. Je näher sie Skollhaugen kamen, umso schneller schritt es.
Yngvar war wieder bewusstlos geworden. Viviane hatte ihn mit dem Deckengurt des Pferdes festgebunden. Doch es war eine unsichere Angelegenheit. Während sie wie eine Holzfigur durch den Schnee stakste, betete sie immerfort in Gedanken. Zum Sprechen war sie zu schwach. Und zum Gehen bald auch. Sie taumelte, doch der warme Pferdekörper neben ihr ließ sie immer wieder aufschrecken.
Am liebsten hätte sie sich in den Schnee fallen lassen und wäre liegen geblieben, eingeschlafen, um nie mehr aufzuwachen. Vor sich sah sie eine Gestalt, groß, kräftig, mit wehenden blonden Haaren.
»Thoralf! Thoralf, du bist da!« Ihr Schritt beschleunigte sich, sie streckte die Arme vor. Doch die Gestalt verwandelte sich, wurde zu einem seltsam geformten Baum, von dessen Ästen der Schnee in dünnen Schleiern herabwehte. Viviane presste die entzündeten Augen zusammen. Die Helle des Schnees blendete sie, vielleicht narrte sie der böse Gott Loki. Vielleicht war auch alles nur ein schrecklicher Traum, aus dem sie gleich aufwachen würde, auf ihrem Lager aus Stroh, neben dem Wärme spendenden Feuer.
»Thoralf!« Es war das Letzte, was über ihre von der Kälte aufgeplatzten Lippen kam. In der Ferne sah sie die schneebedeckten Palisaden von Skollhaugen. Es erschien ihr so verlockend nah. Hinter den Palisaden, aus dem Innenhof, stieg eine dünne Rauchsäule vom Feuer auf. Viviane glaubte, den Duft von gebratenem Fleisch zu riechen. Bestimmt war Thoralf angekommen. Doch auf dem bleigrauen Wasser des Fjords waren keine Drachenboote zu sehen. Sie wankte, griff hilfesuchend in die Luft. Dann stürzte sie. Das Pferd mit seiner bewusstlosen Last lief zielsicher auf das offen stehende Tor von Skollhaugen zu.
[home]
Das Urteil
E s waren viele gekommen. Lange war kein Thing einberufen worden. Dieses Mal jedoch hatten sich alle verfügbaren Männer eingefunden, drei mal zwölf Männer, alles Freie unter der Herrschaft des Björgolf Einbein und des Ragnvald. Schließlich ging es um die Rechtsprechung in einer schier unglaublichen Angelegenheit.
Kaum fanden alle Platz auf dem Hügel. In der Mitte erhob sich einsam ein verkrüppelter Baum, vom Wind und den wechselnden Temperaturen gezeichnet, mit knorrigen Ästen und jetzt, im Winter, kahl und starr wie die Finger eines Toten. Unter dem Baum brannte ein Feuer und tauchte alles in ein gespenstisch flackerndes Licht.
Um den Hügel herum zog sich ein Graben, der dem Ort eine besondere Bedeutung verlieh. Der Thingplatz befand sich im Herrschaftsgebiet von Björgolf Einbein, und er war es auch, der alle freien Männer eingeladen hatte. Selbst Ragnvald war gekommen. In einen dicken Pelzmantel gehüllt, saß er im Kreis und blickte auf Björgolf, der, auf einen Stock gestützt, in der Mitte stand.
»Mein Sohn, mein geliebter Sohn, liegt im Todeskampf«, rief er und hob beschwörend seine freie Hand zum dunklen Himmel. »Und Schuld hat diese rothaarige Sklavin, die Unheil über Skollhaugen brachte. Odin ist mein Zeuge, in welchem Zustand sich Yngvar befand, als er die Burg erreichte. Noch immer liegt er im Fieber, und nur die Nornen wissen, welches Schicksal ihn erwartet. Es ist eine Schande für einen Nordmann, nicht im Kampf oder bei der Jagd zu sterben, sondern von einem Weib verhext zu werden.«
»Was ist mit mir?«, ließ sich Asgeir vernehmen. »Du sprichst immer nur von deinem Sohn. Möge Thor ihn am Leben erhalten oder auch nicht, wir werden es nicht beeinflussen können. Was aber ist mit den Anschuldigungen dieser Sklavin gegen mich und gegen Hoskuld? Du solltest
Weitere Kostenlose Bücher