Wogen der Liebe
Nacht hat der Thing beraten, und sie haben es beschlossen.«
Viviane starrte Raudaborsti mit weit aufgerissenen Augen an. Ihr Herz schlug bis zum Hals. »Woher weißt du das?«
»Ich habe sie belauscht, versteckt im Graben. Sie haben das Urteil gesprochen, den Stab gebrochen. Über dich.«
Viviane schluckte schwer. »Sie haben …«
Raudaborstis magere Schultern zuckten. Es dauerte eine Weile, bis sie die Sprache wiederfand. »Sie haben dich für schuldig befunden daran, dass Yngvar vom Bären angefallen wurde. Und dass du Gunnardviga und Thoralf entzweien wolltest. Und dass du Hoskuld und Asgeir Verrat unterstellst. Und dass du damit zwei hohe Familien entehrt hast. Und dass du einen bösen Geist über Skollhaugen gebracht hast. Und dass du Thoralf verhext hast, dass er sich zu dir hingezogen fühlt. Und dass …«
»Hör auf!« Viviane presste die Hände auf die Ohren. »Das ist doch alles nicht wahr!«
»Das wissen nur ich und du.«
»Und Yngvar. Er hat mir geglaubt.«
»Er kann dir nicht helfen. Und ich … ich würde dir so gern helfen, weil ich dir glaube und ich dich gern habe.«
Viviane zog Raudaborsti wieder in ihre Arme. »Das weiß ich«, flüsterte sie. »Du bist ja auch nur eine Sklavin. Du musst selbst sehen, dass du überlebst. Das Leben ist eben so.«
Raudaborsti nickte stumm und wischte ihr schmutziges, tränennasses Gesicht an Vivianes Kittel ab.
»Was … was wird man denn mit mir machen?«, fragte Viviane mit stockender Stimme.
Raudaborsti zögerte mit der Antwort. »Björgolf will Odin um Beistand für Yngvar bitten, damit er wieder gesund wird. Deshalb … deshalb muss er ihm ein großes Opfer im Moor bringen.«
»Ein großes … Du meinst …?«
Raudaborsti nickte wieder. Das Schreckliche konnte sie nicht über die Lippen bringen.
Das Entsetzen legte sich wie ein eisiger Hauch über sie. Schweigend klammerten sie sich aneinander fest, als könnten sie sich so gegenseitig retten.
»He, komm wieder raus«, zischte der Wächter von außen. »Ich kriege sonst Schwierigkeiten.«
Raudaborsti wischte sich über die Wangen. »Ich habe dich wirklich sehr gern«, schluchzte sie. »Noch nie hatte ich jemanden so gern wie dich. Am liebsten möchte ich mit dir im Moor sterben, aber ich fürchte mich so davor.«
»Ich fürchte mich auch«, flüsterte Viviane. »Aber vielleicht hilft mein Opfer wirklich, dass Yngvar wieder gesund wird.«
Sie drückten sich zum Abschied fest aneinander, dann ließ der Wächter Raudaborsti wieder hinausschlüpfen. Viviane blickte zum Dach der Hütte empor. Es war dicht gedeckt, kein Lichtschimmer drang hindurch. Es gab keine Möglichkeit zu fliehen.
Eine tiefe Resignation ergriff von ihr Besitz. Sie, die versucht hatte, in jeder Lebenslage alle Prüfungen zu meistern, sich selbst und ihrem Glauben treu zu blieben, musste einsehen, dass sie in der seltsamen Welt der Wikinger gescheitert war. Dabei hatte sie gerade begonnen, daran Gefallen zu finden. Der Grund war Thoralf, auch wenn sie sich das lange nicht eingestanden hatte. Sie empfand etwas für ihn, das sie noch nie zuvor für einen anderen Menschen empfunden hatte, ein tiefes, warmes, aufregendes wie schmerzliches Gefühl, eine Sehnsucht, die beinahe übermächtig war. Selbst jetzt, in ihrer aussichtslosen Lage, verspürte sie das feine Kribbeln und Vibrieren in ihrem Körper, wenn sie nur an Thoralf dachte. Gleichzeitig erfüllte es sie mit unendlicher Traurigkeit, dass er so weit weg war, nicht in diese schrecklichen Geschehnisse eingreifen konnte. Sie war überzeugt, Thoralf hätte ihr geglaubt und ein Unheil abwenden können.
Aber bislang war ja nichts passiert, kein Überfall, kein Raub, einfach nichts. Sie nagte an ihrer Unterlippe. Vielleicht hatte sie sich getäuscht, die Worte falsch verstanden, weil sie die Sprache der Wikinger nicht so gut beherrschte? Spielte ihre Abneigung gegen Asgeir eine Rolle?
Sie lehnte sich gegen die geflochtene Wand der Hütte und schloss die Augen. Verwirrende Bilder erschienen ihr wie in einem Alptraum, in schneller Folge und ungeordnet. Doch es waren Bilder aus ihrer Erinnerung, selbst ihre Heimatinsel, wie sie als schmaler Landstreifen am Horizont versank. Sie sah die abschreckenden Drachenköpfe der Boote über sich, bunte Wollfäden an einem Webstuhl, hohe Holzpalisaden und rauchendes Feuer. Und immer wieder sah sie Gesichter, das von Dalla, Truud, Gunnardviga, Astrid, Asgeir, Raudaborsti, Yngvar, Björgolf, Sven, Halveig, Oleif, Ragnvald. Nur Thoralfs
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