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Wohin das Herz uns trägt

Wohin das Herz uns trägt

Titel: Wohin das Herz uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Hannah
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»Mäd-chen?«
    »Ja! Ja! Du bist ein Mädchen.« Wieder legte sie die Hand auf ihre Brust. »Wer bist du? Julia. Das bin ich. Und du?«
    »Mäd-chen«, wiederholte sie, und das Stirnrunzeln wurde noch grimmiger.
    »Kennst du auch deinen Namen, Kleines?«
    Diesmal kam keine Antwort. Alice wartete, noch immer mit gerunzelter Stirn, dann rannte sie wieder zur Tür und schlug erneut mit der Faust dagegen.
    Julia musste lachen. »Vielleicht hast du keinen sehr großen Wortschatz, Kleines, aber du weißt, was du willst, und du lernst schnell. In Ordnung. Gehen wir erst mal nach draußen.«
    * * *
    Was als frischer, klarer Morgen begonnen hatte, ging langsam, aber sicher in einen trüben Nachmittag über. Schwere graue Wolken stießen aufeinander und bildeten eine Masse, die aussah wie Stahlwolle. Die blasse Sonne, die Max an diesem kalten Herbsttag in die Berge gelockt hatte, war so gut wie verschwunden. Ab und zu drang ein Lichtstrahl durch die Wolkendecke, aber in der letzten Stunde waren selbst solche goldenen Momente selten geworden.
    Bald würde es regnen.
    Er wusste, dass er sich beeilen musste, aber eine Felswand hinunterzuklettern brauchte eben Zeit. Das war einer der Gründe, warum er das Klettern so liebte: Man konnte es nicht kontrollieren.
    Er kam zu einem Steilabfall. Unter ihm ragte ein Felsvorsprung aus der Klippe, etwa von der Größe eines Kinderschlittens.
    Heftig schwitzend stieg er langsam weiter hinunter und leicht nach links, wobei er sorgfältig den Halt für Hände und Füße wählte. Er näherte sich dem Ende seiner Klettertour. Die Abenddämmerung war immer eine gefährliche Zeit für Bergsteiger. Nur allzu leicht wanderten die Gedanken schon vor zum nächsten Schritt, zum Einpacken des Proviants, zum Rückweg, zu ...
    Zu Julia.
    Er schüttelte den Kopf, um ihn frei zu bekommen. Der Schweiß lief ihm in die Augen, und einen Moment lang sah der Granit aus wie eine glatte Fläche. Er wischte sich die Augen und blinzelte, bis die Tönungen, Simse und Moose wieder klar vor ihm erschienen.
    Ein Regentropfen traf ihn so hart auf die Stirn, dass er zusammenzuckte. Innerhalb weniger Augenblicke öffnete der Himmel seine Schleusen, Donnergrollen dröhnte über die Bergkette, und der Regen trommelte auf ihn herab.
    Er kam zum nächsten Vorsprung, hielt inne und spähte hinunter. Jetzt trennten ihn nur noch rund zwölf Meter vom Boden. Für diese Entfernung brauchte er sich nicht abzuseilen. Es würde dauern, die Ausrüstung anzulegen und sich bereitzumachen, und inzwischen befand er sich mitten in einem regelrechten Unwetter. Der Wind rüttelte an den Bäumen und fuhr Max heftig ins Gesicht.
    Vorsichtig hangelte er sich weiter. Dann ließ er sich über einen Sims hinunterbaumeln.
    Augenblicklich wurde ihm klar, dass er einen Fehler gemacht hatte. Der Fels knirschte, rutschte und begann sich zu drehen. Winzige Steinbröckchen und feuchter Staub regneten auf ihn herab, trafen ihn im Gesicht und machten ihn blind.
    Er würde abstürzen.
    Instinktiv schob er sich zurück und versuchte von den Vorsprüngen und Kanten unter ihm wegzukommen.
    Aber dann verlor er den Kontakt, war in der Luft und fiel. Schnell. Ein Felsbrocken schlug ihm gegen den Wangenknochen, ein anderer traf ihn am Schenkel. Der Stein, der sein Sims gewesen war, stürzte neben ihm ab und schlug gleichzeitig mit ihm auf dem Boden auf. Es war ein Gefühl, als hätte ihm jemand mit einer schweren Schaufel einen Schlag gegen die Brust versetzt.
    Benommen blieb er im Schlamm liegen, fühlte, wie der Regen auf sein Gesicht prasselte und in kleinen Bächen über seinen Hals lief.
    Schließlich quälte er sich auf die Füße und zog Bilanz. Keine Knochenbrüche, keine schlimmen Kratzer.
    Glück gehabt.
    Nur - so fühlte er sich nicht. Wie er da so neben dem Felsklotz stand, der ihn hätte erschlagen können, und zu der jetzt nassen, glitschigen Felswand emporsah, wurde ihm noch etwas anderes klar.
    Er fühlte sich nicht richtig lebendig, er hatte nicht die geringste Lust, vor Freude über den glimpflichen Ausgang zu jubeln und erleichtert zu lachen.
    Er fühlte sich ... dumm.
    Langsam hob er seine Gerätschaften auf, verstaute sie in seinem Rucksack und machte sich auf dem langen, gewundenen Pfad auf den Rückweg zu seinem Auto.
    Die ganze Zeit - und auch noch auf der Heimfahrt - verdrängte er alle Gedanken, so gut es ging. Weil ihm das nicht gelingen wollte, versuchte er, Freude darüber zu empfinden, dass er noch mal mit einem Schrecken

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