Wohin das Herz uns trägt
davongekommen war.
Aber er konnte an nichts anderes mehr denken als an Julia, wie sie im Whirlpool gesessen hatte. Wie ihre Stimme geklungen hatte, als sie neulich ihr Motto verkündete: Alles oder nichts.
Und wie er sich bei diesen Worten gefühlt hatte.
Kein Wunder, dass er heute beim Klettern nicht den üblichen Adrenalinstoß verspürt hatte.
Denn die wahre Gefahr lauerte anderswo.
Alles oder nichts.
Kapitel 18
In den zwei Wochen, die vergangen sind, und ich ihr ein bisschen von der Außenwelt gezeigt habe, ist sie ein ganz anderes Kind geworden. Alles fasziniert sie. Dauernd greift sie nach meiner Hand und zieht mich irgendwohin, um auf etwas zu deuten und zu fragen »Was?« Jedes neue Wort hält sie fest und erinnert sich mit einer Leichtigkeit und einer Willenskraft daran, die mich immer wieder überraschen. Ich kann nur vermuten, dass ihr eifriges Streben nach Kommunikation so stark ist, weil sie früher daran gehindert worden ist. Jetzt scheint sie förmlich darauf zu brennen, Teil dieser neuen Welt zu werden, die sie nun endlich betreten hat.
Langsam beginnt sie auch, ihre Gefühle zu erforschen. Solange sie nicht gesprochen hat, war ihre Wut meist auf sie selbst gerichtet. Jetzt kann sie es hin und wieder schon angemessen ausdrücken, wenn sie sich über etwas ärgert. Als ich ihr gestern gesagt habe, dass es Zeit ist, ins Bett zu gehen, hat sie mich geschlagen. Sozialisierung kommt später. Momentan freue ich mich, wenn sie einfach nur wütend wird.
Außerdem entwickelt sie allmählich einen Sinn für Besitz, was ebenfalls ein Schritt auf dem Weg zur Selbstfindung ist. Sie hortet alles, was rot ist, und hat eine Stelle, wo »ihre« Bücher aufbewahrt werden.
Noch immer hat sie keinen Namen für sich genannt, aber auch »Alice« akzeptiert sie nicht. Anscheinend ist hier noch mehr Arbeit vonnöten. Der Name ist integraler Bestandteil eines sich entwickelnden Selbst.
Was ihre Vergangenheit angeht, mache ich kaum Fortschritte. Bis sie umfassender kommunizieren kann, ist es natürlich schwer; hier etwas zu entdecken. Ich habe Gott sei Dank viel Geduld. Für den Augenblick bin ich ihre Lehrerin, und das ist eine immens dankbare Aufgabe.
* * *
Julia strich die letzten beiden Sätze, weil sie ihr zu persönlich vorkamen, und legte den Stift beiseite.
Alice saß am Tisch und »las« eine Bilderbuchfassung von Der kleine Kuschelhase. Seit fast einer Stunde hatte sie sich nicht gerührt. Sie schien vollkommen fasziniert.
Julia packte ihre Notizen weg, ging zum Tisch und nahm neben Alice Platz. Sofort ergriff die Kleine ihre Hand und drückte sie. Mit der freien Hand deutete sie auf das Buch und grunzte.
»Benutz deine Wörter, Alice.«
»Lesen.«
»Was lesen?«
»Buuu.«
»Wer möchte, dass ich das Buch lese?«
Alice runzelte die Stirn. »Mädchen?«
»Alice«, korrigierte Julia sanft. Den größten Teil der letzten zwei Wochen hatte sie der Aufgabe gewidmet, Alice dazu zu bringen, ihren wahren Namen zu offenbaren. Doch mit jedem Tag, der verging, und mit jedem Augenblick, in dem sich die angeborene Intelligenz des Mädchens zeigte, wurde Julia sicherer, dass die Kleine sich nicht daran erinnerte. Was für ein schrecklicher Gedanke. Denn er bedeutete auch, dass niemand dieses Kind beim Namen genannt hatte, zumindest nicht in den ersten anderthalb bis zwei Lebensjahren.
»Alice«, wiederholte sie freundlich. »Möchte Alice, dass Julia das Buch vorliest?«
Alice schlug mit der Handfläche auf das Buch, nickte und lächelte. »Lesen. Mädchen.«
»Ich sag dir was: Wenn du noch ein paar Minuten mit den Klötzen spielst, lese ich dir vor. Abgemacht?«
Alice zog ein enttäuschtes Gesicht.
»Ich weiß.« Lächelnd bückte sich Julia, holte die Kiste mit den Bauklötzen heraus und arrangierte sie sorgfältig auf dem Tisch. Es waren große Plastikteile mit Zahlen auf der einen und Buchstaben auf der anderen Seite. Oft benutzte Julia sie, um Alice das Alphabet beizubringen, aber heute wollte sie mit ihr zählen. »Nimm den Klotz mit der Eins, Alice. Eins.«
Sofort nahm Alice den roten Klotz und zog ihn zu sich.
»Gut gemacht. Jetzt Nummer vier.«
So ging es fast eine Stunde weiter. Alices Fortschritte waren erstaunlich. In nicht einmal zwei Wochen hatte sie sich alle Zahlen bis fünfzehn gemerkt, und sie machte so gut wie keine Fehler.
Gegen drei jedoch wurde sie müde und nörgelig. Allmählich wurde es Zeit für den Mittagsschlaf. Sie schlug wieder auf das Buch. »Lesen.«
»Okay, okay.«
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