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Wohin das Herz uns trägt

Wohin das Herz uns trägt

Titel: Wohin das Herz uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Hannah
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beharrlich schwieg, versuchte Ellie es auf einer anderen Schiene. Sie begann zu singen, erst leise, dann, als auf Alices Gesicht statt des Stirnrunzelns ein interessierter Ausdruck erschien, ein klein wenig lauter. So sang sie ein Lied nach dem anderen (das Mädchen konnte ewig so dastehen, ohne sich zu rühren). Aber bei »Weißt du, wie viel Sternlein stehen« veränderte sich Alices Verhalten plötzlich vollkommen, und ihre Lippen verzogen sich zu etwas, das fast aussah wie ein Lächeln.
    »Sternlein«, flüsterte sie genau an der richtigen Stelle des Lieds.
    Ellie verkniff sich mit aller Kraft ein Lächeln. Als das Lied zu Ende war, kniete sie sich hin und gab Alice den Messbecher.
    Erst streichelte sie ihn und drückte ihn an die Wange, aber dann sah sie Ellie erwartungsvoll an.
    Was nun?
    »Sternlein.«
    »Möchtest du, dass ich weitersinge?«
    »Sternlein. Bitte.«
    Ellie tat es. Mitten im dritten Durchgang bewegte Alice sich vorsichtig auf sie zu.
    Am liebsten hätte Ellie einen Jubelschrei ausgestoßen. Es war ein Gefühl wie sechs Richtige im Lotto. Aber sie sang unbeirrt weiter.
    Irgendwann kam Julia zu ihnen nach draußen. Unter dem immer dunkler werdenden Novemberhimmel saßen sie zu dritt im Gras, während der Thanksgiving-Truthahn im Ofen brutzelte, und sangen das ganze Liederrepertoire ihrer Kindheit.
    * * *
    Max wusste, dass er das Haus schon vor einer halben Stunde hätte verlassen müssen. Stattdessen schenkte er sich ein Bier ein und stellte den Fernseher an.
    Er hatte Angst, Julia wiederzusehen.
    Alles oder nichts.
    Geh zu ihr; Max.
    Wieder hörte er Susans Stimme im Kopf, die ihn sanft ermahnte. Wenn sie da gewesen wäre, hier neben ihm, hätte sie ihn mit ihrem schiefen Lächeln angesehen, das bedeutete: Mir kannst du nichts vormachen. Sie wusste, dass er weglaufen konnte, soviel er wollte - am Ende holte ihn die Realität doch wieder ein. Die Feiertage. Er nahm das Telefon und wählte eine Nummer in Kalifornien.
    Susan hob schon beim ersten Klingeln ab. Er überlegte, ob sie womöglich auf seinen Anruf gewartet hatte.
    »Hallo«, sagte er.
    »Hallo. Happy Thanksgiving.«
    »Dir auch.«
    Er wartete, dass sie weitersprach. Die Stille, die durch die Leitung geisterte, erinnerte ihn daran, wie leicht es ihnen einmal gefallen war, miteinander zu reden.
    »Harter Tag für dich, was?« Ihre Stimme klang sanft und traurig. Im Hintergrund hörte er Stimmen. Ein Mann. Ein Kind.
    »Ich bin zu einem Thanksgiving-Essen eingeladen.«
    »Schön. Gehst du hin?«
    Die Zweifel in ihrer Stimme waren nicht zu überhören.
    »Ja.«
    »Gut.«
    Noch ein paar Minuten unterhielten sie sich über Lappalien, dann trat wieder eine Pause ein. Schließlich sagte Susan: »Ich muss aufhören, wir haben Besuch.«
    »Okay.«
    »Pass auf dich auf.«
    »Du auch«, erwiderte er. »Und grüß deine Familie von mir.«
    »Das werde ich.« Sie schwieg einen Moment, dann fügte sie mit leiser Stimme hinzu: »Lass gut sein, Max. Es ist zu lange her.«
    Sie ließ es ganz leicht klingen, aber sie wussten es besser, beide. »Ich weiß nicht, wie das geht, Susan.«
    »Du setzt also nach wie vor dein Leben aufs Spiel. Warum versuchst du nicht mal, ein echtes Risiko einzugehen?« Sie seufzte und verstummte.
    »Vielleicht tu ich das ja«, antwortete er ebenso leise.
    Am Ende legte Max wie immer als Erster auf.
    Dann saß er da und starrte auf seine Armbanduhr. Die Minuten verstrichen.
    Zeit zu gehen. Es gab keinen Grund dafür, dass er sich hier draußen verkroch und sich Sorgen machte. Die Wahrheit war, dass er zu dieser Einladung gehen wollte. Viel zu lange hatte er keinen Feiertag mehr genossen.
    Wenn eine Krähe dem Fluss gefolgt wäre, hätte sie nur gut einen Kilometer zu Julias Haus fliegen müssen. Aber Krähen flogen nun mal hoch über dem Dickicht der Bäume, und auf dem alten Highway und der River Road kam man nur langsam voran. Der Regen der vergangenen Woche hatte riesige Pfützen auf der holprigen Straße hinterlassen.
    Max parkte ein Stück vom Haus entfernt, stellte den Motor und die Scheinwerfer aus. Dann angelte er den Wein vom Rücksitz, warf die Autotür mit der Hüfte zu und drehte sich um. Das hübsche kleine Farmhaus mit seiner umlaufenden Veranda lag etwas erhöht auf einer Wiese, die sanft zum Fluss hin abfiel. Alte Rosenpflanzen mit dicken Stämmen wucherten auf einer Seite, um diese Jahreszeit ohne Blüten, nur dunkle Dornen und schwärzlich verfärbte Blätter. Riesige Bäume, deren Wipfel hoch in den samtgrauen

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