Wohin das Herz uns trägt
Julia. »Du warst auch immer so ein Weihnachtsfan.«
»Du doch genauso.«
»Aber ich war stiller. In jeder Hinsicht.«
»Dann bin ich also das Großmaul?«
Julia grinste. »Ja, und ich die feine Dame.«
Sie schlenderten weiter.
Schließlich meinte Julia in möglichst beiläufigem Ton: »Anscheinend brodelt es in der Gerüchteküche ja mächtig wegen Max und mir.«
»Ich hab mich schon gefragt, wann du das Thema wohl anschneidest. Was ist denn mit euch beiden?«
»Ich weiß nicht«, antwortete Julia wahrheitsgemäß. »Eigentlich ... eigentlich nichts.«
Ellie wandte sich ihr zu. »Ich möchte nicht, dass er dir wehtut.«
»Ja«, erwiderte Julia nachdenklich. »Das hab ich selbst auch schon gedacht.«
Vor der katholischen Kirche blieb Alice stehen und deutete auf die hell erleuchtete Krippe, die im Hof aufgebaut war. »Schön!«
In diesem Augenblick begannen die Glocken zu läuten.
Ellie schaute Julia an. »Der Gottesdienst müsste seit einer Stunde vorbei sein. Ich hab Father James extra angerufen ...«
Doch noch ehe sie den Satz vollenden konnte, öffneten sich die großen Doppeltüren mit einem Schlag und ein munter plaudernder Strom von Gläubigen ergoss sich auf den Kirchplatz. Von allen Seiten kamen Menschen auf sie zu.
Alice schrie und riss sich los, um sich die Ohren zuzuhalten.
Julia hörte den Schrei, dann das verzweifelte Heulen und drehte sich zu Alice um.
»Keine Angst, Schätzchen. Du brauchst keine ...«
Aber Alice war verschwunden, untergegangen im Meer von Gesichtern und Körpern.
Kapitel 20
Es sind nur Fremde um Mädchen herum, sie lachen, reden und singen.
Sie stolpert zur Seite und fällt beinahe hin.
Dschulie bat es versprochen , denkt sie.
Aber es überrascht sie nicht, auch wenn sie einen stechenden Schmerz in der Brust spürt, auch wenn ihr etwas Dickes, Hartes im Hals steckt.
Irgendwas stimmt nicht mit Mädchen. Etwas Schlimmes. So war es schon immer. Das hat Er auch die ganze Zeit gesagt. Warum hat sie das vergessen? Noch schlimmer warum hat sie Dschulie geglaubt ? Jetzt hat Mädchen wieder Angst. Diesmal sind viele, viele Leute um sie herum, sie ist nicht allein wie früher, aber das macht keinen Unterschied. Ein paar Wörter kennt sie inzwischen, und verloren ist verloren. Verloren ist, wenn man sich wünscht, dass jemand einen festhält, doch es ist keiner da, der einen festhalten kann. Verloren ist verloren, auch wenn um einen herum lauter Menschen sind.
Sie drängt sich durch die Menge der Fremden. Jeder von ihnen könnte ihr wehtun. Ihr Herz schlägt so schnell, dass ihr schwindlig wird. Die Fremden strecken die Hände nach ihr aus und wollen sie wegzerren. Sie rennt, bis die Stimmen komisch und weit weg sind, wie das Rauschen der Wasserfälle an ihrem geliebten Fluss, wenn der Schnee zu schmelzen beginnt.
Sie starrt über die Grenzen dieses Ortes, der Stadt heißt, hinaus, hält Ausschau nach ihren Bäumen. Da sind sie, dunkel jetzt, spitz vor dem Himmel. Sie würden Mädchen wieder willkommen heißen, das weiß sie. Sie könnte dem Fluss zu ihrer Höhle folgen und wieder dort leben.
Kalt.
Hungrig.
Allein.
Sogar Wolf ist weg.
Sie wäre viel zu allein dort draußen.
Jetzt wo sie Dschulie und Lellie kennt, kann sie da ins Nichts zurück? Sie wird das Kuscheln vermissen, die schöne Geschichte von dem kleinen Hasen, der echt werden will. Damit kennt Mädchen sich aus. Dass man echt sein möchte.
Der Schmerz in ihrer Brust ist wieder da. Es ist wie ein Anschwellen, und sie hofft, dass ihre Knochen nicht davon zerbrechen. In ihrer Kehle steckt etwas, macht sie eng. Das alles spürt sie wie aus großer Entfernung, und sie fragt sich, ob ihr jetzt auch Wasser aus den Augen kommen wird. Das wünscht sie sich. Dann wird der Schmerz in der Brust aufhören.
Da entdeckt sie den Baum.
Hier hat sie sich am ersten Tag versteckt. Bäume haben sie schon immer beschützt. Sie rennt zu dem Baum, klettert hinauf, höher und höher, bis ein alter, kahler Ast ihr Halt und Sicherheit gibt.
Sie versucht nicht daran zu denken, wie anders - wie viel besser - es sich angefühlt hat, wenn Dschulie sie im Arm gehalten hat.
Nich. Allein. Mädchen.
Wenn sie das bloß nie geglaubt hätte.
Julia wirbelte herum, suchte in den Gesichtern, streckte die Hand aus. Die Menschen um sie her bewegten sich, lachten, unterhielten sich, sangen Weihnachtslieder. Am liebsten hätte sie sie angeschrien, sie sollten still sein und ihr bitte, bitte helfen, ihr kleines Mädchen zu finden. Wie
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