Wohin das Herz uns trägt
direkt an Azelle. »Alice hat keine Ahnung, wer Sie sind, George. Ich fühle mit Ihnen, das tue ich, ganz ehrlich - ich konnte die ganze Nacht kein Auge zutun bei dem Gedanken, was Sie durchgemacht haben aber die Wahrheit ist, dass es zum jetzigen Zeitpunkt in erster Linie um Ihre Tochter geht. Sie versteht noch nicht, was ein Vater ist, und wenn man sie mir nun wegnimmt - sprich: sie erneut im Stich lässt -, dann kann es gut sein, dass sie in ihrer Entwicklung zurückfällt. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wird sie sich in sich zurückziehen, wird wieder stumm werden, heulen, sich selbst verletzten. Sie ist noch nicht so weit, zu Ihnen zu kommen. Es tut mir ehrlich leid.« Sie starrte Azelle an, als könnte sie ihn mit ihrem Blick überzeugen. »Vielleicht könnten Sie für ein paar Jahre hierher ziehen, und ich würde mit ihr weiterarbeiten. Wir könnten langsam ...«
»Ein paar Jahre?« Azelle sah zutiefst erschüttert aus. »Sie wollen, dass ich mich hier niederlasse, während meine Tochter bei Ihnen wohnt? Während sie lernt, Mommy zu Ihnen zu sagen? Und wer darf ich dann sein? Der Mann von nebenan? Onkel George?«
Auch Julia war anzumerken, dass Azelles Schicksal ihr alles andere als gleichgültig war. »Ich könnte auch nach Seattle ziehen ...«
»Sie kapieren es einfach nicht. Dr. Cates«, sagte er leise, doch sehr bestimmt. »Ich liebe meine Tochter. Als ich im Gefängnis war, habe ich jeden Tag davon geträumt, sie wiederzufinden, mit ihr im Park spazieren zu gehen, ihr Gitarrespielen beizubringen.«
»Sie lieben die Idee einer Tochter. Ich habe alles über Sie gelesen, George. Als Alice bei Ihnen gelebt hat, waren Sie nie da. Fünf Tage die Woche hat sie in der Kindertagesstätte zugebracht. Zoe hat ausgesagt, dass sie nicht mal zum Abendessen heimgekommen sind, und auch am Wochenende waren Sie dauernd unterwegs. Sie kennen Ihre Tochter doch überhaupt nicht. Und Alice kennt Sie nicht.«
»Das ist nicht meine Schuld«, erwiderte er leise.
»Ich ... ich liebe Alice«, erklärte Julia, ohne darauf einzugehen, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Das weiß ich. Genau da liegt ja das Problem. Deshalb kann sie nicht hier wohnen bleiben und auch nicht weiter von Ihnen therapiert werden, egal ob hier oder in Seattle.«
»Das verstehe ich nicht. Wenn ich helfen kann ...«
»Dann wird sie niemals lernen, mich zu lieben«, stieß er hervor. »Nicht, solange Sie in der Nähe sind.«
Julia schnappte nach Luft. Langsam schloss sie die Augen und rang um Fassung. Schließlich sah sie Azelle wieder ins Gesicht, aber alle im Raum wussten, dass sie dieses Argument nicht entkräften konnte.
»Ich werde alles für meine Tochter tun«, versprach Azelle. »Ich engagiere die besten Ärzte und Psychologen. Ich garantiere, dass sie gut versorgt wird. Und später, wenn sie mich liebt und weiß, wer ich bin, bringe ich sie zurück, damit sie Sie besuchen kann. Ich werde dafür sorgen, dass Sie ihr immer in Erinnerung bleiben, Julia.«
* * *
Eine Kleinstadt wie Rain Valley lebte nicht nur vom Klatsch, sondern auch davon, dass jeder seine eigene Meinung hatte und es nicht erwarten konnte, damit auch hausieren zu gehen. Max war überzeugt, dass die Leute über den Ausgang der Gerichtsverhandlung diskutieren würden, kaum dass eine Entscheidung gefallen war.
Alle zehn Minuten wählte er Julias Nummer, doch die meldete sich nicht. Auch sein eigenes Handy blieb stumm.
Fast eine Stunde wartete er vergeblich, und schließlich hielt er es nicht mehr aus. Vielleicht dachte sie, dass sie jetzt unbedingt allein sein musste, aber seiner Meinung nach irrte sie sich. Diesen Fehler hatte er selbst viel zu lange begangen zu glauben, dass man mit Kummer am besten allein zurechtkam und er war nicht gewillt zuzulassen, dass sie den gleichen Irrtum beging.
Er stieg in sein Auto und fuhr zu ihrem Haus. Auf der Fahrt versuchte er sich vorzustellen, was sie gerade tat. Ob sie auf dem Sofa saß ... oder auf dem Bett lag und versuchte, nicht zu weinen? Beim Gedanken an Alice würden die Tränen wahrscheinlich von ganz alleine kommen ..., wie sie lachte ..., wie sie eine Blume aß ..., wie sie ihr einen Schmetterlingskuss gab ...
Er konnte ihre Gefühle nur allzu gut nachvollziehen.
Vielleicht würde sie zu vergessen versuchen, vor den Erinnerungen davonlaufen, so wie er es getan hatte. Dann konnten Jahre vergehen, bis ihr klar wurde, dass man Erinnerungen festhalten muss. Denn sie waren alles, was nach einem Verlust
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