Wohin der Wind uns trägt
Krawatte fehlte, sein oberster Hemdknopf stand offen, und Jo stellte sogar aus einiger Entfernung fest, dass er nach Rum roch.
»Oben«, erwiderte sie und gab Zucker in ihre Tasse.
Es war nicht das erste Mal, dass ihr Bruder nach einer Siegesfeier betrunken nach Hause kam. Den Finger an die Lippen gelegt, torkelte Bertie auf sie zu.
»Kannst du mir ein bisschen Geld leihen? Ich stecke in Schwierigkeiten«, lallte er und legte den Arm um Jo.
»Was hast du diesmal gemacht? Den Rennstall verwettet und verloren?«, höhnte sie mit einem bitteren Auflachen.
»Du wirst deinem großen Bruder doch aus der Klemme helfen, Schwesterherz, oder nicht?«, sagte Bertie leise, ohne auf ihren Spott einzugehen. Immer noch den Arm um sie gelegt, flüsterte er ihr die Summe ins Ohr und wollte ihr einen brüderlichen Kuss geben. Entsetzt riss Jo sich los.
»Das ist doch hoffentlich ein Scherz!«
Bertie schüttelte den Kopf und versuchte, sie wieder zu umarmen.
»Von mir kriegst du keinen Cent, Bertie. Werde endlich erwachsen und löse deine Probleme selbst.« Sie eilte, am ganzen Leibe zitternd, durch die Küche und verschüttete dabei Kakao auf ihrem Pyjama. »Schau, was du angerichtet hast. Geh ins Bett, Bertie.«
»Ja, ja, spiel dich nur auf, Schwesterherz«, kicherte Bertie. »Wenn ich kein Bargeld mehr habe, muss ich eben den Rennstall als Sicherheit einsetzen«, lallte er mit einem selbstzufriedenen Grinsen.
Entgeistert wirbelte Jo herum. Bertie war das durchaus zuzutrauen.
»Sei kein Idiot, Bertie. Meinetwegen kannst du dein Geld ruhig zum Fenster rauswerfen, aber von meinem Erbe lässt du die Finger. Was hast du vor? Den Rennstall auszubluten?«
Zu ihrem Erstaunen sackte Bertie in sich zusammen und brach in Tränen aus.
»Wie konntest du mir das antun? Warum hast du mich im Stich gelassen?«, heulte er. »Warum hast du mir nicht gesagt, dass dein Pferd ein Versager ist? Schwesterherz, ich brauche deine Hilfe. Ich stecke in großen Schwierigkeiten«, flehte er und klammerte sich an sie.
»Ach, du meine Güte, Bertie, halt den Mund und benimm dich nicht wie ein Kleinkind«, fauchte Jo und machte sich los.
Wenn sie jetzt nicht hart blieb und sich durchsetzte, würde sie ihn für den Rest ihres Lebens durchfüttern. Es war typisch für Spielsüchtige, dass sie die Menschen in ihrer Umgebung aussaugten – leider verschloss aber der Rest der Familie vor Berties Krankheit die Augen.
»Ich kann nichts dafür, wenn du dich in Schwierigkeiten bringst. Hilf dir selbst. Nie machst du einen Finger für mich krumm, und immer erwartest du von mir, dass ich dir wie Dad unter die Arme greife. Nun, da hast du dich verrechnet. Niemand wird für dich in die Bresche springen. Außerdem habe ich nicht so viel Geld.« Sie wollte zur Tür gehen, doch Bertie stellte sich ihr aufgebracht in den Weg, einen tückischen Ausdruck in den Augen.
»Mein Gott! Du bist nicht einmal bereit, deinem eigenen Bruder zu helfen … Du warst immer Daddys Lieblingskind, das sich um seine kostbaren Pferde kümmern durfte. Und was ist mit mir? Ich wurde mit Geld abgespeist. Na, komm bloß nicht angekrochen, wenn alles zusammenbricht.« Er torkelte zum Kühlschrank und nahm sich ein Bier.
»Nichts wird zusammenbrechen«, erwiderte Jo, erschrocken über seine Worte, die ihr ein unangenehmes Gefühl verursachten. Bertie trieb sich mit zwielichtigen Gestalten herum. Menschen, die Black Jack und Poker spielten, waren in der Regel keine Ehrenmänner – dasselbe galt für viele Buchmacher.
Bertie trank einen Schluck Bier.
»Wie lange willst du dich noch lächerlich machen? Unser Vater wird nie wieder den Rennstall leiten, und die Männer, die auf der Rennbahn das Sagen haben, wollen dich nicht. Auch Mum möchte, dass du aufhörst. Du vergeudest auch einen Teil meines Erbes.«
»Du bist betrunken und redest Unsinn. Geh ins Bett, Bertie«, befahl Jo mit funkelnden Augen und versetzte ihm einen Stoß.
Bertie stierte sie an, verlor fast das Gleichgewicht und konnte sich im letzten Moment am Küchentisch festhalten.
»Rechtlich gesehen, Schwesterherz, könnte ich dich zwingen, den Rennstall morgen zu verkaufen. Also verschone mich mit deinen Predigten«, zischte er und näherte sein Gesicht bedrohlich dem ihren. Seine Augen waren blutunterlaufen, und eine übel riechende Alkoholfahne schlug ihr entgegen.
»So ein Blödsinn! Scher dich zum Teufel – und nenn mich nicht Schwesterherz!«, brüllte Jo, schob ihn beiseite und stürmte in ihr Zimmer.
Kurz darauf
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