Wohin der Wind uns trägt
Abend denke ich darüber nach. Mein Magen war so zusammengekrampft, dass ich das Abendessen kaum hinuntergebracht habe. Aber nun habe ich mich entschieden«, sagte Jo im Brustton der Überzeugung. »Ich rufe ihn gleich morgen Früh an. Hoffentlich habe ich es nicht vermasselt, weil ich nicht sofort zugegriffen habe.«
»Das meinst du doch nicht ernst, oder? Sag, dass es nicht stimmt«, rief Emma. »Du bist als Model unglaublich erfolgreich. Und jetzt willst du lieber Pferdemist schippen?«
»Wir haben dieses Gespräch schon einmal geführt, Emma, und damals hattest du recht. Aber ich kann nicht mehr so weitermachen«, antwortete Jo. »In einer guten Woche werde ich achtzehn. Während ich in Stockenham Park war, habe ich ständig darüber nachgedacht, wann sich mein Leben endlich in die richtige Richtung entwickeln wird. Dann hat Kurt mir einen Job angeboten, und plötzlich kannte ich die Antwort: jetzt. Die Gelegenheit, in einem so berühmten Rennstall zu arbeiten, ergibt sich kein zweites Mal. Und ich glaube, Kurt würde sich sehr freuen, wenn ich zusage.«
Sie sah ihre Freundin mit strahlenden Augen an.
»Du hast dir solche Mühe gegeben, mich zu ermutigen, damit ich meine Modelkarriere nicht an den Nagel hänge. Aber eigentlich warst immer nur du es, die wirklich Spaß an diesem Beruf hatte. Ich habe einfach Dienst nach Vorschrift gemacht.« Sie wickelte sich eine blonde Haarsträhne um den Finger. »Ich weiß, dass meine Entscheidung richtig ist, und es würde mich auch nicht stören, wenn ich die nächsten fünf Jahre Ställe ausmisten müsste.«
»Offen gestanden wundert mich das nicht sehr«, gab Emma zu. Sie holte tief Luft und ließ die Finger über die Daunendecke gleiten. »Aber wie willst du das deinen Eltern beibringen? Diesen plötzlichen Richtungswechsel werden sie doch sicher nicht gutheißen. Was ist mit deinen Engagements fürs neue Jahr? Und mit dem Geld? Was soll ich Jenny sagen, wenn ich ohne dich zurückkomme?«
Jo beugte sich vor, und das Mondlicht fing sich silbrig in ihrem Haar.
»Bis auf die Frage, wie ich es Dad begreiflich machen soll, habe ich mir alles genau überlegt. Das wird vermutlich schwierig«, erwiderte Jo rasch. »Wegen Jenny habe ich ein leicht schlechtes Gewissen, aber andererseits hat sie selbst gemeint, ich könnte höchstens einen Nischenmarkt erobern und mich nicht lang halten. Bestimmt hat sie Verständnis für meine Entscheidung. Ich rufe sie gleich morgen an. Außerdem habe ich zwanzigtausend Dollar auf der hohen Kante, sodass ich nicht so schnell verhungern werde. Und wenn ich Mum am Sonntagabend anrufe, werde ich ihr einfach erzählen, ich hätte beschlossen, noch ein wenig länger zu bleiben und Freunde zu besuchen. Das verschafft mir ein bisschen Luft.«
Sie hielt inne.
»Könntest du Jenny ausrichten, dass ich bis Ende Januar bleibe? Bis dahin ist mir sicher eingefallen, wie ich es Mum und Dad beibringen kann.« Sie verzog das Gesicht.
»Das alles hat nichts mit Simon zu tun, oder?«, erkundigte sich Emma und musterte Jo forschend.
Jo schüttelte heftig den Kopf, und ihre Augen sprühten Funken. »So dämlich bin ich nicht, Emma.«
»Da bin ich aber erleichtert. Denn du hättest nicht die geringste Chance. Unsere reizende Lelia hat ihn nämlich fest am Haken.« Sie wackelte unter der Bettdecke mit den Zehen. »Wie fangen wir es also an? Ich erzähle Jenny, du hättest beschlossen, deinen Geburtstag in England zu feiern und noch ein paar Wochen zu bleiben. Das gibt uns Zeit bis Anfang Februar. Und was wird dann? Wie erklären wir es Tante Sarah und Onkel Charlie?«
Jos Augen wirkten im Mondlicht wie große dunkle Seen. Sie schmiegte sich fester in die Decke und erläuterte ihren Plan. Emma und sie verließen das »Krähennest« gemeinsam. Auf dem nächsten Bahnhof würde Jo umsteigen und nach Stockenham Park fahren, während Emma nach London und von dort aus nach Paris weiterreiste. Jenny trat am Tag nach der Ankunft der beiden Mädchen eine zweimonatige Europareise an. So würde sie gar keine Zeit haben, sich eingehender nach Jos Plänen zu erkundigen. Und Emma selbst flog in der darauffolgenden Woche nach New York.
»Wann schenkst du allen reinen Wein ein?«, fragte Emma.
»Das weiß ich noch nicht«, erwiderte Jo ohne zu zögern. »Aber wenn ich etwas aus meinem Leben machen will, bleibt mir nichts anderes übrig, als mich dem Problem zu stellen.«
Nachdem dieser Satz endlich ausgesprochen war, fühlte sich Jo wie von einer Zentnerlast befreit und
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