Wohin du auch fliehst - Thriller
wenn er mich weinen sah.
»Ist das so?«
Ich nickte und war nicht in der Lage, ihn noch einmal anzusehen. Dann legte er eine Hand unter mein Kinn und suchte sich eine Stelle, den Daumen auf der einen, die Finger auf der anderen Seite.
»Nein«, sagte ich. »Lee, bitte …«
»Halt’s Maul!«, sagte er. »So ist es gut, du wirst es lieben.«
Während er mich vögelte, drückte er mir die Luft ab. Ich fasste mir an den Hals, versuchte mir das Atmen zu erleichtern, doch das Rauschen in meinen Ohren gab mir zu verstehen, dass ich in Kürze die Besinnung verlieren würde. Dann lockerte er den Druck, während er mich nach wie vor wie wild vögelte. Ich rang nach Luft und sog sie gierig in meine Lunge. Die einzige Möglichkeit, ihn aufzuhalten, bestand darin, ihm nachzugeben. Ich schrie, so laut ich konnte. Tränen liefen über meine Wangen. Ich hatte dem Tod fast ins Auge gesehen. Ich war vollkommen terrorisiert und schrie ganz automatisch. Ich schrie und schrie.
Er versuchte nicht, meinen Schrei zu ersticken, legte seine Hand nicht auf meinen Mund, sondern ließ mich einfach schrei en. Das erfüllte seinen Zweck. Kurz darauf zog er sich aus mir zurück und spritzte mir ins Gesicht.
Jetzt, hier im Zug, schloss ich die Augen und kämpfte gegen die Übelkeit an.
Als er fertig war, stand er auf, torkelte in die Toilette im Erdgeschoss, wusch sich, ging nach oben und fiel ins Bett. Ich wartete so lange, bis ich ihn schnarchen hörte, rappelte mich auf und schleppte mich weinend unter die Dusche. Wenigstens hatte ich diesmal nur Blutergüsse am Hals. In der Arbeit trug ich nun jeden Tag einen Schal. Alle dachten, ich hätte einen Knutschfleck, und das noch mit vierundzwanzig.
Um neun fuhr der Zug in den Bahnhof von Crewe ein. Ich hörte den Bahnhofssprecher die kommenden Haltestellen bis Euston ansagen, dann gab er bekannt: »Aufgrund einer Signal störung in Nuneaton hat dieser Zug eine halbe Stunde Verspä tung.«
Eine halbe Stunde? Ich sah auf die Uhr, obwohl ich genau wusste, wie spät es war. Das war o. k. Zusätzlich zur dreistündigen Reiseabfertigung in Heathrow hatte ich einen Zeitpuffer von zwei Stunden eingeplant. Solange keine weiteren Verspätungen hinzukamen, würde ich es auf jeden Fall rechtzeitig schaffen.
Ich hätte gerne ein wenig geschlafen, doch dafür war ich zu aufgeregt, zu angespannt. Wann würde ich mich endlich entspannen können? Würde ich mich entspannen, wenn ich im Flieger saß? Wenn ich in New York war? Wenn ich erfuhr, dass er aus Lancaster weggezogen war oder ich ein Jahr nichts mehr von ihm gehört hatte?
Würde ich überhaupt je wieder in der Lage sein, mich zu entspannen?
Sonntag, 9. März 2008
Schließlich rief ich doch Detective Sergeant Hollands aus der Abteilung für häusliche Gewalt auf dem Polizeirevier von Camden an, nur um der Sache ein Ende zu machen. Als ich endlich zu ihr durchgestellt wurde, hatte sie völlig vergessen, wer ich war. Ich erklärte ihr stotternd die Sache mit den Vorhängen und mit dem Knopf, sagte, wie typisch das für Lee gewesen war, als wir noch zusammen waren. Noch während ich das erzählte, merkte ich, wie idiotisch das klang. Ich hörte mich an wie jemand, der sich bloß wichtig machen will. Ich erwartete, dass sie mich anschnauzen und mir sagen würde, ich verschwende nur ihre kostbare Zeit, doch eigentlich sagte sie recht wenig. Sie versprach, ihre Kontaktperson in Lancashire anzurufen und sich dann zu melden, falls es Grund zur Sorge gäbe.
Sie rief mich aber nicht zurück.
Diese Nacht schlief Stuart nicht besonders gut. Ich lag neben ihm und wartete darauf, dass er einschlief, wusste aber, dass er wach lag, weil er über das nachdachte, was ich ihm erzählt hatte. Er hatte was Besseres als mich verdient. Er hatte jemanden verdient, der nicht so abgefuckt war und der neben einem ganzen Rattenschwanz an Problemen nicht auch noch einen Psychopaten im Schlepptau hatte. Wir lagen schweigend nebeneinander und berührten uns nicht. Ich wollte noch ein wenig reden, doch das brachte nichts.
Das war nicht einfach nur ein Knopf, irgendein roter Knopf, da war ich mir inzwischen sicher. Es war ein Knopf von einem Kleid, das ich in einem anderen Leben, zu einer anderen Zeit unbeschwert getragen hatte. Ein Kleid, das ich zuerst geliebt und dann gehasst hatte. Und irgendwann hatten Finger, die einst mit sinnlicher Neugier und Verehrung über den Satinstoff gestrichen hatten, den kleinen Knopf zu fassen bekommen und ihn mit solcher Gewalt gedreht,
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