Wohin du auch fliehst - Thriller
einem Lächeln wandte ich mich wieder dem Fernseher zu. Das Wasser lief mir im Mund zusammen.
Montag, 3. Dezember 2007
Ich wusste, dass ich nur dreißig Minuten hatte, um alles zu kontrollieren. Ich durfte mich also nicht hetzen und musste es bereits beim ersten Mal perfekt hinbekommen. Keine Fehler. Alles sechs Mal kontrollieren, immer nach dem gleichen Muster.
Es klappte. Eine halbe Stunde nach meiner SMS schaffte ich es die Treppe hinauf. Ich hatte nicht einmal die Zeit gehabt, mei nen Mantel auszuziehen.
Als er die Tür öffnete und mich sah, runzelte er die Stirn. »Alles in Ordnung?«
»Ja«, sagte ich und folgte ihm hinein. Sein Flur war hell erleuchtet.
»Du siehst blass aus.«
»Oh, ich bin in der Bücherei zusammengeklappt.«
Wir standen in der Küche. Er hatte mir den Mantel abgenommen und ihn an den Haken hinter der Tür über seine braune Jacke gehängt. Heute sah er eleganter aus, wahrscheinlich hatte er noch keine Zeit gehabt, sich nach der Arbeit umzuziehen: Er trug eine schicke graue Hose und ein blaues Hemd, dessen Ärmel er bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt hatte. »Du bis ohnmächtig geworden? Warum?« Er zog einen Küchenstuhl für mich heran.
Ich zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Vielleicht habe ich heute nicht genug gegessen, vielleicht bin ich aber auch nur müde oder so was.«
»Du bleibst zum Abendessen«, sagte er.
»Nein – ich meine, – ich will mich dir wirklich nicht aufdrängen.«
»Du bleibst zum Abendessen.«
Er rührte in einer Suppe auf dem Herd, die frisch zubereitet roch. Währenddessen goss er Tee auf, obwohl ich das am liebsten selbst gemacht hätte, nur um sicherzugehen, dass es auch richtig getan wurde. Er fügte Milch hinzu, rührte eifrig in den Teetassen und erzählte von seiner völlig verrückten Woche. Und irgendwas von einem tollen Laden, den er nur vier Straßen weiter entdeckt und in dem er Gewürze gefunden habe, die ihm in ganz London noch nie unter die Augen gekommen waren.
Ich bekam eine Tasse Tee, und wie beim letzten Mal war er gar nicht schlecht. Auf jeden Fall trinkbar.
Aus einer Tüte holte er ein paar Brötchen, legte sie in den Ofen und backte sie auf. Ich sah zu, wie er sich bewegte, und wurde müde. Mir war nicht entgangen, dass er mich noch kein einziges Mal auf die Zwangsstörung angesprochen hatte.
»Danke für die Sachen, die du mir gegeben hast. Die waren sehr interessant.«
Er hielt inne und sah mich an. Er wirkte erleichtert.
»Schön zu hören. Hast du noch mal überlegt, Hilfe in Anspruch zu nehmen?«
»Ich habe darüber nachgedacht. Aber das ist nicht leicht, weißt du.«
Er stellte Sonnenblumenmargarine auf den Tisch, Beilagenteller, Messer, Löffel. »Ich weiß.«
»Ich mache das schließlich nicht aus Spaß oder völlig grundlos. Ich meine das Kontrollieren. Es hilft mir, mich sicherer zu fühlen. Wie soll ich wissen, ob ich in Sicherheit bin, wenn ich nicht alles kontrolliere?«
»Aber wäre es nicht besser, du müsstest alles nur einmal kontrollieren, um zu wissen, dass du in Sicherheit bist?«
»Natürlich.«
»Du weißt, dass es keinen objektiven Grund gibt, alles mehrfach zu kontrollieren. Du machst das nur aufgrund deiner Gefühle und nicht, weil sich irgendwas geändert hätte und du nicht mehr sicher wärst.«
»Aus irgendeinem Grund bezweifle ich, dass eine Therapie das ändern würde.«
»Einen Versuch wäre es wert, meinst du nicht?«
Er brachte zwei dampfende Teller Suppe und stellte sie auf den Tisch. Dann holte er schnell die Brötchen aus dem Ofen und jonglierte damit, weil sie so heiß waren.
Er setzte sich mir gegenüber und sah mir in die Augen.
»Danke, das ist sehr nett.«
»Das ist nur Hühnersuppe.«
Er sah mich weiter unablässig an, so als erwarte er, dass ich etwas sagen oder tun würde. Ich fragte mich, ob er bei der Arbeit seine Patienten auch so anstarrte, bis sie etwas sagten und das Schweigen brachen. Ich wollte aber nichts sagen. Ich wollte nur schauen, einen Grund zum Schauen haben, um weiter schauen zu können.
Am Ende war er derjenige, der als Erster aufgab. Mit geröteten Wangen sah er in seine Suppe. Ich wertete das als kleinen Sieg für mich. Ich konnte jeden in Grund und Boden starren, immer und überall. Ein kleiner Trick, den ich im Krankenhaus gelernt hatte.
Die Suppe war gut, unglaublich gut, um ehrlich zu sein. Sie wärmte von innen, und je mehr ich davon aß, desto mehr wurde mir bewusst, wie hungrig ich gewesen war. »Wann hast du zum letzten Mal etwas
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