Wohin du auch fliehst - Thriller
der Kriseninterventionsstelle. Daneben betreibe ich Forschung und erledige Papierkram. Deswegen wird es bei mir oft spät.«
Ich stellte ihm eine Tasse Tee auf die Arbeitsplatte und spülte das wenige Geschirr ab, das sich im Spülbecken gesammelt hatte.
»Das wollte ich gerade erledigen«, sagte er.
»Mit einer Hand?«
Er sah mich an und nippte an seinem Tee. »Es ist erstaunlich, was man alles mit einer Hand machen kann, wenn man sich konzentriert«, sagte er. »Du gehst also zu Sanj?«
»Ja. Die sind dort sehr nett. Im Wartezimmer saß ein alter Kerl und schlief. Sie ließen ihn einfach schlafen. Ich denke, das war gut so.«
»War das George?«
»Ja.«
»Ich könnte dich am Donnerstag begleiten, wenn du willst«, sagte er.
Ich sah ihn an, es war nur ein kurzer Blick, der von seinen Füßen, die in Socken steckten, zu seinen Jeans und dem dunkelgrünen Pulli, der gut zu seinen Augen passte, bis hin zu seinem bemitleidenswert müden Gesicht glitt.
»Nein, danke.«
Nachdem ich den Abwasch erledigt hatte, wärmte ich ein wenig Chili con carne in der Mikrowelle auf, das er letzte Woche zubereitet und eingefroren hatte. Anschließend setzten wir uns aufs Sofa und aßen. Er erzählte mir, womit er die beiden Jahre zwischen Diplom und Promotion verbracht hatte. Er ging ins Schlafzimmer und holte einen Memorystick, auf dem laut ihm mehrere hundert Bilder waren. Er erzählte mir, dass er schon lange ein Album anlegen wollte, aber nie Zeit dafür gefunden hätte. Während er über seine Reisen sprach, kam er auch auf eine verrückte Comedyshow zu sprechen, die er in Australien gesehen hatte. Und auf eine DVD mit einer in Sydney mitgeschnittenen Oper. Ich lachte mit ihm und merkte, wie ich mich langsam entspannte. Mir war warm, ich war müde und tatsächlich ziemlich entspannt.
Mittwoch, 17. Dezember 2003
Wenn Lee arbeitete, blieb er mehrere Tage hintereinander weg. An manchen Tagen rief er mich ständig an, schrieb mir zwischendurch SMS, fragte mich, wie es mir gehe und was ich machte, und sagte, wie gerne er bei mir wäre. An anderen Tagen konnte er das Telefon anscheinend nicht benutzen, dann war ich ganz allein.
An diesem Mittwochabend eilte ich im Dunkeln von der Arbeit nach Hause. Seit Samstag hatte ich nichts mehr von ihm gehört. Im Supermarkt besorgte ich mir etwas zu essen. Ich hatte mir vorgenommen, Hühnergeschnetzeltes zuzubereiten und mir etwas davon für den nächsten Abend aufzuheben.
Sonntag und Montag hatte ich überwiegend damit verbracht, mein Telefon zu checken, nur für den Fall, dass er doch angerufen hatte. Am Dienstag kontrollierte ich es nur noch ein paarmal. An diesem Tag hatte ich kaum nachgesehen. Ich fragte mich, ob es ihm gut ging. Während ich Obst und Gemüse musterte, überlegte ich, wie lange er nun schon weg war. Wie lange wir, seit wir uns kannten, maximal getrennt gewesen waren. Normalerweise verging ein Tag, höchsten zwei, ohne Kontakt. Ich hatte ihm Montagabend eine SMS geschickt, aber keine Antwort darauf erhalten. Ich hatte versucht, ihn anzurufen, doch sein Handy war aus. Das war nicht ungewöhnlich; wenn er arbeitete, stellte er oft das Handy aus oder war irgendwo, wo er es nicht aufladen konnte.
Es war ein komisches Gefühl so ohne ihn. Unabhängig davon, wie eingeengt ich mich manchmal fühlte, wenn er bei mir war, gab er mir das Gefühl von Sicherheit. Jetzt war ich wieder allein, ich fühlte mich ungeschützt, verletzlich. Im Supermarkt wurde ich das Gefühl nicht los, dass mich jemand beobachtete.
Als ich nach Hause kam, die Einkäufe in der Küche ablegte und das Licht anmachte, fühlte ich mich besser. Mein Festnetztelefon zeigte einen verpassten Anruf an. Die Nummer war unterdrückt worden. Ich fragte mich, ob Lee versucht hatte, mich anzurufen, doch er hätte es zuerst auf meinem Handy versucht. Ich machte das Abendessen, sang vor mich hin und freute mich auf ein heißes Bad mit einem Buch. Als alles so weit fertig war, nahm ich mir Besteck aus der Küchenschublade und setzte mich mit dem Essen aufs Sofa.
Würde ich es erfahren, wenn Lee bei der Arbeit irgendwas zustieß? Würde ich jemals davon erfahren? Er hatte klargestellt, dass keiner der Leute, mit denen er arbeitete, irgendetwas über mich wusste. Das »war besser so – sicherer«. Was, wenn er verletzt war? Was, wenn er in eine weitere schlimme Schlägerei verwickelt und dabei erstochen oder erschossen worden war?
Ich spülte das Geschirr und trocknete es ab. Die ganze Zeit überlegte ich, wo er
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