Wohin du auch fliehst - Thriller
angesehen, so als warteten sie darauf, dass ich etwas tat oder sagte, irgendein Symptom oder sonst was zeigte, damit sie sich endlich einigen konnten, was mit mir nicht stimmte.
»Tut mir leid, ich dachte, es sei alles in Ordnung. Sanj – er ist wirklich o. k. Manchmal ist er vielleicht ein bisschen salopp. Was hat er denn gesagt?«
»Es war in Ordnung. Er war in Ordnung. Er will mich zur Begutachtung weiterüberweisen. Was meinte er eigentlich mit seiner Bemerkung, dass sie am Sonntag eine Chance hätten zu gewinnen, weil du außer Gefecht bist?«
Er lachte. »Was für ein dreister Mistkerl! Ich spiele im NHS Trusts Rugby Team. Offenbar hält Sanj mich für ein Hindernis.«
Ich trank gleichzeitig mit ihm den Tee aus.
»Wie dem auch sei, du hast es geschafft«, sagte er und sah mich an. »Du hast den ersten Schritt gemacht.«
»Ja«, antwortete ich. Unsere Blicke trafen sich, und jetzt konnte ich nicht mehr wegsehen.
»Willst du es mir erzählen?«, fragte er so leise, dass ich ihn kaum verstand.
»Was?«
»Wodurch das alles ausgelöst wurde?«
Ich antwortete nicht.
Nach einer Weile sagte er: »Soll ich hierbleiben, während du schläfst?«
Ich schüttelte den Kopf. »Es geht mir wirklich gut. Danke.«
Kurz darauf ging er. Ich wurde langsam wacher und hätte ihn am liebsten gebeten, mich wieder zu umarmen, festzuhalten und bei mir zu bleiben, doch das wäre nicht fair gewesen. Also ging er, ich schloss die Tür hinter ihm und legte mich ins Bett.
Ich muss mir endlich Gedanken darüber machen, wie es weitergehen soll. Wie ich mein Leben verbringen will. Lange werde ich es nicht mehr aushalten, nur von einem Tag auf den anderen zu leben und einen Schritt nach dem anderen zu machen. So kann es nicht weitergehen.
Mittwoch, 24. Dezember 2003
Bis Weihnachten war alles in bester Ordnung.
Na ja, nicht ganz in bester Ordnung. Eine Beziehung mit jemandem zu führen, der ständig tagelang geschäftlich unterwegs ist, ist alles andere als in Ordnung. Doch wenn er da war, war alles gut. Wenn er wegen eines Auftrags tagelang verschwinden musste, warnte er mich vor. Wenn er dann wieder auftauchte, war ich jedes Mal lächerlich erleichtert, ihn heil wiederzusehen, sodass sich jeder Vorwurf in Luft auflöste.
Wenn er da war, wohnte er praktisch bei mir. Während ich in der Arbeit war, putzte er alles, kümmerte sich um sämtliche Reparaturen und machte das Essen.
Wenn er fort war, vermisste ich ihn mehr, als ich mir eingestehen wollte. Jede Nacht fragte ich mich, ob er in Sicherheit war und ob ich es jemals erfahren würde, wenn ihm etwas zustieße. Obwohl er meist völlig zerschlagen auftauchte, vor Hunger umkam und dringend eine Dusche benötigte, stand er nie wieder verletzt vor meiner Tür. Ganz egal, was ihm das erste Mal zugestoßen sein mochte – ich bildete mir ein, dass er jetzt vorsichtiger war, weil es mich gab.
Ich war nicht zum ersten Mal in meinem Leben am Weihnachtsabend allein. Lee arbeitete irgendwo – er hatte Schichtdienst, wie er es nannte. Er hatte versucht, den Dienstplan zu ändern, um etwas Zeit mit mir zu verbringen. Er wollte versuchen, früher zu gehen, doch um zehn Uhr an Heiligabend war noch immer keine Spur von ihm zu sehen.
Verdammt!, dachte ich nur.
Es dauerte nicht lange, und ich war ausgehfertig. Ich zog mein Lieblingskleid an, Stöckelschuhe, legte schnell ein wenig Make-up auf und steckte die Haare hoch, woraufhin ein paar Strähnen wieder herunterfielen. Ich war so weit.
Um halb elf war ich im Cheshire , auch Sam und Claire waren da. Sie hatten schon einige Drinks intus, und ich hatte es nicht leicht, den Vorsprung wieder aufzuholen. Claire hatte bereits einen geeigneten Kandidaten für eine Nacht gefunden; er sah ziemlich jung und ein klein wenig zu besoffen aus, um eine gute Performance hinlegen zu können.
»Den find ich nicht so toll«, schrie ich Sam über den Lärm von »I Wish It Could Be Christmas Every Day« von Wizzard zu, ein Song der seit Oktober nun schon zum millionsten Mal gespielt wurde.
»Ja, aber du solltest mal seinen Freund sehen«, schrie Sam zurück und zeigte mit dem Hals ihrer Bierflasche in die Ecke, wo ein dunkler, sehr attraktiver Kerl stand und die beiden mit einem Gesichtsausdruck musterte, der nur schwer zu deuten war.
»Nett, oder?«
»Bisher nicht.«
Der Freund kam näher, stellte sich vor und machte einen ziemlich sympathischen Eindruck. Er hieß Simon und war beim Militär, wie er mir ins Ohr flüsterte. In zwei Wochen musste er
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