Wohin du auch fliehst - Thriller
mich zu befragen, ich aber keinen Ton von mir geben konnte. Ich hatte drei Tage lang nur geschrien. Sie hatten tagelang warten müssen, bis sich meine Stimme wieder einigermaßen erholt hatte. Bis dahin hatte er natürlich viel erzählen können.
Ich zog das T-Shirt und die Hose an, die er für mich bereitgelegt hatte. Sie fühlte sich komisch an, so weit und schlabberig, und ich musste sie am Bund festhalten, weil sie mir sonst heruntergerutscht wäre. Ich fühlte mich halb nackt, vor allem, weil meine Arme entblößt waren. Die Narben waren schlimm. Ich wollte nicht, dass er sie sah. Hinter der Badezimmertür hing ein dunkelblauer Bademantel. Ich schlüpfte hinein und konnte ihn beinahe zweimal um mich wickeln. Er reichte bis auf den Boden. Das musste genügen.
Ich ging zu ihm in die Küche. In der Waschmaschine drehten sich meine Kleider. Ein schwacher Desinfektionsmittelsduft hing in der Luft. Er stellte eine Tasse Tee auf den Küchentisch, ich setzte mich und spürte die Bodenfliesen unter meinen nackten Füßen. Ich hatte mir in seiner Wohnung noch nie zuvor die Socken ausgezogen, ganz zu schweigen von meiner sonstigen Kleidung.
»Möchtest du reden?«, fragte er.
»Ich glaube, ich kann nicht«, flüsterte ich.
»Kannst du mir sagen, was du am Telefon erfahren hast?«
Ich überlegte und sagte mir die Worte zuerst innerlich vor, bevor ich sie aussprach. »Sie hat gesagt, dass er am achtundzwanzigsten entlassen wird.«
»Der Mann, der dich angegriffen hat?«
»Ja.«
Er nickte. »Okay. Gut gemacht«, sagte er, als wäre ich eine Musterschülerin, die soeben eine komplizierte Mathegleichung gelöst hat.
»Sie meinte, er habe eine Adresse in Lancaster angegeben und würde wohl nicht bis hierher kommen.«
»Weiß er, wo du wohnst?«
»Ich glaube nicht. Ich bin umgezogen. Ich bin dreimal umgezogen. Außer der Polizei weiß nur noch eine weitere Person davon, die mich damals kannte – Wendy.«
»Glaubst du, Wendy ist in Gefahr?«
Ich dachte einen Augenblick nach und schüttelte dann den Kopf. »Ich glaube kaum, dass er etwas von unserer Freundschaft weiß. Bis zu dem Tag, als sie mich fand, hatte ich nie zuvor mit ihr gesprochen. Daraufhin wurde er sofort festgenommen. Allerdings hat sie im Prozess ausgesagt.«
Ich trank ein wenig Tee. Er schmerzte in meiner Kehle, war aber die reinste Wohltat. Ich spürte, dass ich mich beinahe sofort beruhigte.
»Alles wird gut«, sagte er sanft. »Du bist jetzt in Sicherheit. Er wird dir nie wieder etwas antun können.«
Ich versuchte zu lächeln. Ich wollte ihm glauben, ich wollte ihm vertrauen. Nein, ich vertraute ihm, ich saß ja in seiner Küche, trug seine Klamotten und seinen Bademantel. »Das kannst du mir nicht versprechen.«
Er überlegte und antwortete dann: »Nein, das kann ich nicht, aber du bist damit jetzt nicht mehr allein. Und du kannst be schließen, dich von diesem furchtbaren Mann abzuwenden und jeden Tag ein Stück gesünder und stärker zu werden, bis du keine Angst mehr hast. Du kannst aber auch zulassen, dass er dir weiterhin wehtut. Es ist deine Entscheidung.«
Ich musste unwillkürlich lächeln.
»Bleibst du heute Nacht hier?«, fragte er.
Ich ging die Möglichkeiten durch. Ich wollte nach Hause gehen und meine Wohnung kontrollieren, doch gleichzeitig hatte ich Angst. Ich hatte Angst davor, nach Hause zu gehen. Ich hatte Angst, irgendwo ohne Stuart zu sein.
»Ja«, sagte ich.
»Ich schlafe auf dem Sofa.«
»Nein, das macht mir nichts aus. Du brauchst dein bequemes Bett«, sagte ich und zeigte auf seine Schulter.
»Als du das letzte Mal auf meinem Sofa geschlafen hast, bist du ausgeflippt.«
»Ich glaube, ich würde noch viel mehr ausflippen, wenn ich in deinem Bett aufwachen würde.«
»Ganz wie du meinst. Hast du Hunger?«
Ich hatte keinen, doch der Auflauf, den er vor Stunden in den Ofen geschoben hatte, brutzelte immer noch vor sich hin, also aßen wir ihn aus Schälchen, die wir auf den Schoß nahmen, und tunkten Brot in die Sauce.
Er war heiß und würzig und verbrannte mir die Zunge. Doch er schmeckte köstlich. Stuart hatte die Flasche Wein geholt, die ich nicht mehr hatte öffnen können, und den tranken wir.
»Vermutlich keine sehr gute Idee«, sagte Stuart und leerte sein erstes Glas.
»Welche?«
»Der Alkohol. Du hast einen harten Abend hinter dir, und ich muss morgen früh aufstehen und das Weihnachtsessen vorbereiten.«
»Er schmeckt aber gut.«
Er drehte sich zu mir und lächelte. Ich fand, er sah hundemüde
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