Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
und Anna setzten sich durch die Art, wie sie das Haus in der Piaristengasse nutzten, besonderer Gefahr aus. Ein NSDAP-Funktionär berichtete im März 1939, dass sie jüdischen Glaubensgenossen halfen, indem sie ihnen Wohnungen vermieteten, sodass das Gebäude eine jüdische Enklave wurde. Im Juni revanchierten sich die Nazis und verkauften das Haus um einen Bruchteil seines Wertes, wodurch Mizzi, Anna und ihre Mieter zum Ausziehen gezwungen waren.
Die Einreisegenehmigungen, die Erni erhalten hatte, hätten Wien Anfang Juli erreichen und Mizzi, Anna und Fritz gerade genug Zeit geben sollen, vor dem Kriegsbeginn im September gemeinsam zu entkommen. Als sie nicht eintrafen, reiste Fritz mit einem Visum der britischen Regierung, die im Gefolge der »Kristallnacht« viele neue jüdische Flüchtlinge aufgenommen hatte. Doch da Anna nicht fahren konnte, blieb auch Mizzi, und als Erni realisiert hatte, was schiefgelaufen war, hatte der Krieg begonnen. Ein Glück war allerdings, dass die australische Regierung zwar nach Kriegsbeginn keine neuen Genehmigungen für Flüchtlinge mehr ausstellte und viele frühere widerrief, für Mizzi und Anna jedoch Duplikate ausstellte.
In der Wartezeit waren Mizzi und Anna von einer Reihe neuer Maßnahmen betroffen. Eine verlangte, dass alle Männer und Frauen, die bei den Nazis als Juden galten, neue Zusatznamen erhielten. Aus den Männern wurde Israel, aus den Frauen Sara. Das Gesetz machte nicht nur Juden leichter identifizierbar, es ließ sie auch als Wesen aus dem Alten Testament erscheinen, ob sie nun religiös waren oder nicht, und nahm ihnen ihre Individualität. Marie Sara Gallia und Anna Sara Jacobi, wie Mizzi und Anna nun hießen, durften keine öffentlichen Orte aufsuchen, nach acht Uhr abends nicht mehr ausgehen und nicht Radio hören. Sie mussten ihre Pelze, Wollkleidung, Schmuck und Silber (außer Eheringen, Besteck für zwei Personen und Zahnfüllungen) abgeben. Wie die meisten Juden, die in Wien geblieben waren, mussten sie neuerlich umziehen; das resultierte meist darin, dass mehrere Familien gezwungen waren, sich eine kleine Wohnung zu teilen. Anna und Mizzi waren typisch für diese Gemeinschaft, in der die Alten und die Frauen in der Überzahl waren, da für sie eine Flucht am schwersten war.
Die schlimmste Erfahrung für Mizzi kam, als die Nazis sie zwangen, Anfang 1940 die Villa Gallia für einen Bruchteil ihres Wertes zu verkaufen, und sie nach Altaussee fahren musste, um die Schlüssel der Villa den neuen Besitzern zu übergeben. In Wien war sie zwar in ständiger Gefahr, aber sie durfte sich dort aufhalten. Altaussee hingegen besuchte sie illegal, der Ort hatte sich als »judenfrei« erklärt. Mizzi hatte noch nie solche Angst empfunden, aber die Einkünfte aus dem Verkauf der Villa kamen ihnen zugute. Ein beträchtlicher Teil ging an den Anwalt der Familie, Stephan Lehner, mit dem Rest konnte Mizzi die Ausreisesteuer entrichten, 25 Prozent des gesamten Vermögens, und die »Judenkontribution«, weitere 25 Prozent.
Inzwischen war die Flucht für Juden noch schwieriger geworden. Während 1938 und 1939 über 126.000 Wien verlassen hatten, waren es 1940 und 1941 nur noch 2000. Im April 1940 erhielten Mizzi und Anna die Papiere, um Wien verlassen und durch Italien reisen zu können, dessen Truppen zwar in Abessinien und Spanien gekämpft hatten, das aber sonst neutral geblieben war. Anfang Mai legten sie von Neapel aus auf der
Remo
ab, einem der drei Dampfer des Lloyd Triestino, die regelmäßig nach Australien fuhren. Auch sie reisten Erster Klasse, aber nur, weil sie die Tickets bereits 1939 gekauft hatten, als sie noch viel mehr Geld besaßen. Ihre Reise hing von Mussolini ab. Noch vor ihrer Abreise aus Wien erwartete man, er werde an der Seite Deutschlands in den Krieg eintreten. Falls das geschah, bevor die
Remo
Australien erreichte, wollte die Mannschaft den nächstgelegenen neutralen Hafen anlaufen oder das Schiff versenken, um es nicht in feindliche Hände fallen zu lassen.
Annes erste australische Tagebücher berichten von ihrer Angst. Nachdem sie gehört hatte, dass Anna und Mizzi Wien verlassen würden, »zitterte« sie, da die italienischen Truppen an der jugoslawischen Grenze zusammengezogen wurden. Als Anna und Mizzi das Schiff besteigen sollten, schrieb Anne: »Jetzt heißt es beten dass sie gut hier ankommt, denn die Haltung Italiens ist sehr kritisch«; sie tat dies denn auch und betete jeden Tag für Mizzi den Rosenkranz. Vier Woche später näherte
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