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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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nahm, war sie sich nicht sicher, wo wir hinfahren sollten. Sie musste zwischen dem Beruflichen und dem Privaten wählen, zwischen einem vertieften Verständnis der deutschen Geschichte durch einen Besuch in Berchtesgaden, wo Hitler sein alpines Urlaubsdomizil gehabt hatte, oder einem Wiederauffrischen von Kindheitserlebnissen durch eine Fahrt ins Salzkammergut und nach Altaussee. Sie entschied sich für Altaussee.
    Nach unserer Ankunft wusste sie nicht, was tun – ein normales Dilemma für zurückkehrende Flüchtlinge ihrer Generation. Einige versuchten, Einlass in die Wohnhäuser ihrer Kindheit zu erhalten. Andere blieben draußen stehen, brachten es aber nicht über sich, den nunmehrigen Bewohnern gegenüberzutreten, mochten sie sich noch so sehr wünschen, hineinzugehen. Beinahe alle erlebten diese Erfahrung als tief verstörend. Nachdem sie beim Mittagessen noch gezögert hatte, entschied Anne, dass sie die Villa Gallia sehen wollte; es genügte ihr nicht, sie von der Straße aus zu betrachten, sie ging um das Haus herum, das so wie in ihrer Kindheit über den Winter unbewohnt war. Was sich geändert hatte, interessierte sie am meisten: »Das Haus wirkt hässlich durch die neuen Fenster und einen gelben Anstrich, der Garten ist anders, der Tennisplatz, die roten Ribisel und Stachelbeeren sind verschwunden, auch die Rosenbüsche und die Pfingstrosen beim Haus.«
    Sie wollte aber noch mehr. Obwohl es Winter war, beschloss sie, mit uns auf den Tressenstein zu gehen, den niedrigsten der Berge um Altaussee. Da alles voller Eis und Schnee war, fiel sie zweimal hin. »Die falschen Schuhe, das sollte man nicht tun«, bemerkte sie und gab damit unausgesprochen zu, dass sie fehl am Platz war. Sie kämpfte sich weiter, bis wir eine Stelle mit einem überwältigenden Ausblick auf den zugefrorenen See erreichten und sie das Haus sehen konnte, wo George Turners Familie immer die Sommer verbracht hatte. Nach unserer Rückkehr nach Salzburg besuchten wir unsere erste und, wie sich herausstellen sollte, letzte Operette, Johann Strauß’ »Wiener Blut«, die ihr gefiel, obwohl sie die Tänzer »sehr schlecht« fand, die Sänger, Kostüme und Beleuchtung »halbwegs«. Die Quintessenz dieses Tages drückte bei weitem nicht aus, was er ihr bedeutet haben musste: Sie beschrieb ihn als »albern, aber sehr lohnend«.
    Fünf Tage später waren wir in Wien, wo sie zu ihrer Freude entdeckte, dass sie sich noch ohne Stadtplan auskannte. Und als sie mit uns in den Eislaufverein zum Schlittschuhlaufen ging, war sie glücklich, dass sie »immer noch ein bisschen was konnte, wenn auch nicht Rückwärtsfahren oder Tanzschritte«. Das Burgtheater fand sie noch besser als in ihrer Erinnerung. Den Wiener Sängerknaben war sie so sehr verbunden geblieben, dass sie Karten kaufte, damit wir jeden Sonntag in die Hofburgkapelle zur Messe gehen konnten; für Bruce und mich waren das die ersten katholischen Gottesdienste seit unserer Taufe. Enttäuscht war sie, als wir zur Feier ihres 49. Geburtstags in der Staatsoper Verdis »Die Macht des Schicksals« sahen und nur Stehplatzkarten auf der Galerie ergattern konnten, aber begeistert, als wir eine Woche danach früher hingingen und Stehplatzkarten im Parterre für »die schönste Zauberflöte mit dem prachtvollsten Bühnenbild« erhielten.
    Die Wohllebengasse hätte sie leicht aufsuchen können, doch obwohl wir oft nur ein, zwei Minuten davon entfernt waren, ging sie nicht hin, bis wir im Juli zum zweiten Mal nach Wien kamen. Da das Haus zugesperrt war, sah sie nur, dass die originale Holztür durch eine metallene ersetzt worden war. Unser einziger Besuch auf dem Hietzinger Friedhof war aufreibend. Anne fand zwar das Familiengrab so leicht, wie sie sich auf den Straßen der Stadt zurechtfand, war aber bestürzt, nicht nur die Namen von Moriz, Hermine und Lene, sondern auch die von Gretl und Kathe darauf zu lesen. Vielleicht hatten ihre Mutter und ihre Tante ihr nicht gesagt, was sie vorhatten. Wahrscheinlicher ist, dass sie es vergessen hatte. »Ich nehme an, man hat es mir einmal gesagt«, schrieb sie darüber, wie sie die Namen entdeckt hatte, »doch die Realität des Ganzen« versetzte ihr »einen richtiggehenden Schock.«
    Andere Gegenden der Stadt waren voller Bedeutung für sie. Sie schrieb, dass die Erinnerungen auf sie einströmten: die Namen und das Wesen vieler Menschen, an die sie jahrelang nicht gedacht hatte. Alle waren sie entweder tot oder verschwunden. Einen Verwandten fand sie einfach

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