Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
nicht trauen. Sicher wäre ich unglücklich, wenn ich dort eine Zeitlang bleiben müsste.« Andererseits sehnte sie sich danach, »all die alten Orte« wiederzusehen, die »großartige Kultur, die wunderbaren Dinge«. »Ich hoffe, eines Tages wieder hinzukommen, wenn auch nur für eine Weile«, schrieb sie. »Ich beneide dich fast um die Möglichkeit, nach Wien zu reisen«; »manchmal denke ich, dass ich nie das Glück haben werde, hinzukommen.«
Als Erste fuhren Erni und Mizzi wieder hin. Die Mittel dazu hatten sie im Krieg erworben; Erni, der in Europa trotz seines ererbten Reichtums und seiner Beziehungen ein geschäftlicher Versager gewesen war, hatte hier als Partner in einer tasmanischen Spirituosenfabrik Erfolg, welche die amerikanischen Streitkräfte versorgte und dadurch florierte. Als er 1944 erstmals Sydney besuchte, war Anne verblüfft, ihn die Rolle des reichen Onkels spielen zu sehen. Nachdem Mizzi und er nach Melbourne übersiedelt waren, war er zwar weniger erfolgreich, aber Mizzi nahm Untermieter auf und trug dadurch zum Familieneinkommen bei. Als er 1962 mit 65 Jahren in Rente ging, reisten sie nach Europa und entdeckten mit großem Vergnügen neue Gegenden; die Rückkehr an vertraute Orte hingegen war viel vertrackter, vor allem für Mizzi, deren Erfahrungen, so lange nach dem »Anschluss« in Österreich geblieben zu sein, sie noch verfolgten. Der einzige Ort der Familie, den sie nicht besuchte, war Altaussee; zu sehr hatte ihr zugesetzt, wie sie 1940 dorthin gekommen war, um die Schlüssel der Villa Gallia auszuhändigen; und so fuhr Erni allein hin.
Annes früheste Möglichkeit, mit Bruce und mir zu folgen, ergab sich, nachdem sie in den 1960er Jahren einen neuen Berufsweg als Wissenschaftlerin eingeschlagen hatte; sie hatte einen Lehrauftrag am Germanistischen Institut der University of New England in Armidale erhalten, wo Gretl zwanzig Jahre zuvor als Lehrerin so unglücklich gewesen war. 1970 langweilte es sie bereits, die Sprache zu unterrichten; wie sich ihre Vorlesung über deutsche Kultur und Geschichte entwickelte, fand sie aber sehr spannend. Zudem stand ihr ein Sabbatical zu, und sie fühlte sich »ziemlich abenteuerlustig«. 1971 war Bruce zwar im letzten Jahr der High School, und viele Eltern wären in einem solchen Fall daheimgeblieben, um die Aussichten ihres Kindes nicht zu gefährden, doch sie entschied, dass wir acht Monate in Europa verbringen würden; sie nahm zu Recht an, dass seine Schulergebnisse nicht leiden würden.
Da der australische Dollar so stark war, konnte sie ihre Reise ungewöhnlicher und anspruchsvoller gestalten. Sie entschied, dass wir nicht in einer Stadt oder Großstadt ein Haus oder eine Wohnung mieten und Bruce und ich dort zur Schule gehen würden, sondern dass wir von Stadt zu Stadt reisen sollten, also von einem billigen Hotel zum nächsten. Sie wollte sich nicht bloß darüber informieren, wie an verschiedenen Universitäten Deutsch unterrichtet wurde, sondern auch möglichst viele verschiedene Theaterstücke, Opern und Kunstwerke sehen, während wir mit ihr Europa erkundeten und zwischendurch in den Hotelzimmern per Fernkurs unser Schulpensum absolvierten. Sie war weit davon entfernt, eine fixe Reiseroute zu planen, wusste nicht, wie lange wir an den diversen Orten bleiben oder wo wir als Nächstes hinfahren würden, wie eine ihrer ersten Ansichtskarten an eine Freundin in Australien verrät. Als unsere Adresse gab sie Gretls und Kathes Wohnung in Cremorne an, mit dem Zusatz: »Meine Mutter weiß, wo wir sind.«
32 Jahre, nachdem sie aus Österreich entkommen war, flogen wir nach Frankfurt am Main. Unser erster Opernabend war der 1. Jänner 1971, unser dritter Tag in Frankfurt. Am nächsten Abend ging Anne allein ins Theater und tags darauf schon wieder, nicht nur wegen ihres Universitätslehrgangs, sondern weil ihr Hunger nach Oper und Theater so lange ungestillt geblieben war. Ende Jänner hatte sie 25 Aufführungen besucht. Im Februar ergaben sich weniger Möglichkeiten, da wir sechs Tage in Bayern und Österreich auf dem Land verbrachten; so waren es nur siebzehn Abende, im März wieder zwanzig.
Den ersten Monat über reisten wir durch Westdeutschland, wo nicht nur für Bruce und mich, sondern auch für Anne alles neu war. Dann überquerten wir die Grenze nach Österreich, und Anne entdeckte, dass vieles, von dem sie angenommen hatte, es würde vertrautes Terrain sein, neu schien. Als sie an unserem zweiten Tag in Salzburg einen Mietwagen
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