Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
durch einen Blick ins Telefonbuch: Es war Otto Herschmann, der jüngste Bruder ihres Vaters, der 1957 aus Argentinien zurückgekehrt und gleich danach der Israelitischen Kultusgemeinde beigetreten war. Anne hatte mit Otto nur über Rechtsanwälte Kontakt gehabt, nachdem Paul 1957 gestorben war, ohne ein Testament zu hinterlassen, und Otto erfolglos Annes Erbschaft von Pauls kleinem Vermögen angefochten hatte. Nachdem Anne entdeckt hatte, dass der 77-jährige Otto noch am Leben war, rief sie ihn aber nicht an.
Die einzige Person, die sie sehen wollte, war Anni Wiesbauer, mit der sie seit Anfang der 1950er Jahre keine Briefe mehr gewechselt hatte. Als Anne nach Wien zurückkehrte und herausfand, dass Anni noch in derselben Wohnung lebte, hätte sie im Voraus einen Brief schicken oder anrufen können. Stattdessen klopfte sie, wie es typisch für sie war, einfach unangekündigt an Annis Tür und war begeistert über das Wiedersehen. »Es ist wunderbar, jemanden wie sie zu kennen!«, schrieb sie, nachdem sie die 72-jährige Anni getroffen hatte. »Sie war so erfreut, mich zu sehen«, bemerkte sie, nachdem sie sie ein zweites Mal unangekündigt besucht hatte. »Mein Bild lag heraußen, sie wollte es einer Freundin zeigen«, setzte sie hinzu und verriet damit ihre Unsicherheit und ihre Bedürftigkeit.
Falls Anne sich überhaupt jemals entspannen konnte, dann nicht in Wien. »Ich fühlte mich nie gut, schon gar nicht zuhause«, meinte sie in ihrem Erinnerungstext. Wie die meisten heimkehrenden Flüchtlinge war sie misstrauisch gegenüber Österreichern, die alt genug waren, um Teil des Nazi-Regimes gewesen zu sein. »Ich betrachtete die Leute auf der Straße, die in meinem Alter waren«, schrieb Anne, »und fragte mich, was sie 1938 getan hatten.« Als wir nach einem beinahe dreiwöchigen Aufenthalt Richtung Prag weiterfuhren, war sie froh. »Außer Anni ist nichts hier«, meinte sie. »Ich gehe weg wie von jedem anderen Ort.« Wien war für sie bloß eine Stadt, wo »ich mich gut auskenne und wo ich eine wirkliche Freundin habe«.
Auflösung
WÄHREND UNSERER REISE gewann das Klimt-Revival an Schwung. Die Preise für Klimt-Zeichnungen, die zugänglichsten seiner Werke, waren in den Vereinigten Staaten von 120 Dollar im Jahr 1957 auf 1200 im Jahr 1964 und 1971 auf 4000 gestiegen. Anne, Bruce und ich kamen zwar zu spät nach England, um die Anfang 1971 stattfindende Ausstellung über die Wiener Secession in der Royal Academy zu sehen, in der Klimt als »größter Künstler« und »Star« der Secession gefeiert wurde, doch Anne hörte, wie begeistert Wilhelm Gallias jüngste Tochter Friedl von Hofmannsthal, die in London lebte, davon war. Anne besuchte auch das Auktionshaus Christie’s, das die Einschätzung abgab, Hermines Porträt könne zwischen 10.000 und 12.000 Pfund erzielen – ein kleines Vermögen.
Nur wenige Wochen nach unserer Rückkehr befand sich das Gemälde bei Christie’s. Während wir eines der intensivsten Erlebnisse unseres Lebens gehabt hatten, hatte Gretl die ganze Zeit unserer Abwesenheit über gefürchtet, uns würde etwas Schreckliches zustoßen. Sie machte sich Sorgen, als wir auf dem Flug nach Frankfurt waren. Sie machte sich Sorgen, während wir in den nächsten acht Monaten in Europa herumreisten. Sie machte sich Sorgen, als wir Ende August nach Sydney zurückkehrten; am Tag unserer Landung erlitt sie dann einen Schlaganfall. Da sie wochenlang im Krankenhaus lag und Kathes Gesundheit sich ebenfalls sehr verschlechterte, musste Anne sich überlegen, wie sie die Arzt- und Krankenhausrechnungen bezahlen sollte, und kam auf das Porträt, das sie für viel zu wertvoll hielt, um es in einer Wohnung ohne Sicherheitsanlage hängen zu lassen. Es gehörte zwar Kathe, doch beschloss Anne, es als gemeinsamen Besitz von ihr und Gretl versteigern zu lassen.
Das Porträt wurde bei einer Auktion von impressionistischen und modernen Gemälden angeboten, darunter ein Picasso aus seiner Blauen Periode, ein Monet-Bild der Brücke in Argenteuil, Porträts von Degas, Renoir und Modigliani und eine Landschaft von Gauguin. Diese Bilder brachten alle viel mehr ein als der Klimt, den Kritiker als »sehr schönes Beispiel seines reifen Stils«, wenn auch »keines seiner bedeutendsten Werke« bezeichneten. Doch das Bild wurde am öftesten besprochen und reproduziert, da man es im ersten Werkkatalog als verloren bezeichnet hatte und sehr wenige seiner Bilder auf den internationalen Kunstmarkt kamen. Der Schätzpreis bei
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