Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
gelesen hatte. Bei vier Reisen nach Wien hatte sie bisher noch niemand eingeladen. Leopold bestand nicht nur darauf, dass sie ihn sofort aufsuchte, sondern zeigte ihr auch zwei Stunden lang einige seiner Bilder und drückte zudem sein Interesse an denen in Sydney aus. Anne war so bewegt von diesem Erlebnis, dass sie am nächsten Tag kaum an etwas anderes denken konnte. »Ich kann Ihnen gar nicht genug dafür danken, dass ich Ihre Schiele-Sammlung und noch andere schöne und interessante Dinge sehen durfte«, schrieb sie an Leopold. »Das Ganze geht mir im Kopf herum«, fuhr sie fort und ließ damit deutlich ihre Aufgeregtheit und Hochachtung erkennen.
Kurze Zeit danach war Anne sehr verstört, da Gretl in Australien gestorben war, während sie in Europa war, und brauchte unbedingt Gesellschaft; die bot ihr Leopold, er lud sie wieder in sein Haus ein und aß mit ihr zu Abend. Als sie eine Woche später wieder nach Wien zurückkehrte, rief er sie im Hotel an. Am nächsten Abend gingen sie wieder essen und unterhielten sich zu ihrer offenkundigen Freude »sehr lange über Kunst«. Zwei Tage später, unmittelbar vor ihrer Rückkehr nach Australien, bekundete Leopold sein besonderes Interesse an dem Ribarz und dem Schindler in Cremorne, während er die Wiener Kunsthändler, die Anne ebenfalls getroffen hatte, heruntermachte und meinte, denen gehe es bloß um Geld.
Nach ihrer Rückkehr nach Australien ließ die Aufregung nicht nach, da bald nach Gretl auch Kathe starb; dann zogen Bruce und ich nach Canberra und ließen Anne allein in Armidale. Sie war zwar prinzipiell davon überzeugt, dass wir ausziehen sollten, in der Praxis aber war sie dann doch am Boden zerstört, als wir gingen. Mit aller Macht versuchte sie, sich ein neues Leben zu schaffen, sie gab die Vorlesungen an der Universität in Armidale auf und wurde Lehrerin in Sydney, wo sie seit zwanzig Jahren nicht gelebt hatte; sie freute sich aber trotzdem darauf, mehr Gesellschaft zu finden. Inzwischen korrespondierte sie weiterhin sowohl mit Leopold in Wien als auch mit Wolfgang Fischer in London über die Bilder, da sie zwei Bieter dafür haben wollte, ebenso wie bei der Hoffmann-Sammlung; wenn Fischer ein Angebot machte, benutzte sie es, um Leopold zu einem höheren zu bewegen. Da die Fotos und Dias der Gemälde, die Anne ihm schickte, meist nicht besonders aussagekräftig waren (auf dem Foto des Schindler-Bildes ist allerdings deutlich zu sehen, dass es in schlechtem Zustand war), entschloss sich Leopold, nach Australien zu kommen, um Annes Sammlung zu begutachten. Ende 1976 war sie eben in Sydney eingetroffen, als Leopold ankündigte, er werde aus Wien kommen, um sich ihre Bilder anzusehen.
Hätte sie bloß »Die Kälte der Jagd« lesen können, einen Artikel des amerikanischen Schriftstellers Andrew Decker, veröffentlicht 1990 in
Art and Auction
, in dem er einige der Kunstkäufe Leopolds aus den 1960ern und frühen 1970ern unter die Lupe nahm. Decker begann mit Leopolds Ankauf von zwei Schiele-Bildern aus dem Besitz von Eduard Wimmer-Wisgrill, einem führenden Mitglied der Wiener Werkstätte; Leopold tätigte diesen Kauf unter dem Vorbehalt, dass er diese Bilder auf Dauer behalten werde – nur um eines davon unmittelbar darauf zu veräußern. Dann ging Decker darauf ein, wie Schieles Schwester Melanie, mit der sich Leopold angefreundet hatte, als sie eine hilflose Witwe war, ihn wegen Betrug angezeigt hatte, nachdem Leopold sie »um halb zwei Uhr morgens einen Verkaufsvertrag hatte unterzeichnen lassen; sie war erschöpft und wollte bloß noch in Ruhe gelassen werden«. Die Sache endete mit einem Urteil zu Melanie Schusters Gunsten; Leopold musste 68 Gemälde und Zeichnungen zurückgeben und ihr mehr als 710.000 Schilling zahlen, behielt aber 51 Schiele-Zeichnungen, und Melanie Schuster gab ihm zudem drei Schiele-Gemälde.
Ein Artikel von Judith Dobrzynski in der
New York Times
1997, der sich mit aus dem Holocaust stammender Raubkunst in den Vereinigten Staaten befasste, hätte Anne noch mehr verstört. Darin wurde Leopold als jemand bezeichnet, der seine »Beute gnadenlos verfolgt«, der die Besitzer so lange bedrängte und manipulierte, bis sie ihm ihre Kostbarkeiten verkauften, oft zu einem sehr geringen Preis. Im Mittelpunkt des Artikels standen zwei Gemälde, die im New Yorker Museum of Modern Art in der Ausstellung »Egon Schiele: Die Sammlung Leopold« gezeigt wurden und die, wie Dobrzynski nachwies, ihren jüdischen Besitzern gestohlen worden
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