Wolf Shadow Bd. 4 - Finstere Begierde
weil sie sie ihr ganzes Leben lang im Spiegel gesehen hatte.
Er legte die Hände auf ihre Schultern und strahlte sie an. „Jetzt fragst du dich, wer ist dieser Mann? Er kann nicht mein Vater sein, denn der würde wissen, dass seine süße Mary klein und rund ist und dunkle Haare und Augen hat. Doch du hast zwar nicht ihre Figur, aber ihre Nase.“ Er tippte mit dem Finger gegen ihre Nasenspitze. „Und ihren üppigen Mund, wie ich sehr wohl sehe, trotz der Ornamente, mit denen du dein hübsches Gesicht bemalt hast. Und ein bisschen von ihrem störrischen Kinn, glaube ich. Obwohl ich glaube, dass du meine Augen hast, stimmt’s?“
Cynna musste unwillkürlich nicken. Ja, sie erkannte ihre Augen in seinem Gesicht. Und er erkannte seine Augen bei ihr, was ja eigentlich amüsant war, weil sie ja schließlich beide ihre eigenen Augen hatten.
Er stieß einen tiefen, erinnerungsschweren Seufzer aus. „Wir haben uns viel zu sagen, aber vielleicht lieber nicht alles auf einmal oder hier draußen in der Kälte. Und außerdem wünschen euch die Ehrenwerten Räte zu sprechen.“
Einer der Gnome – nicht Bilbo – sagte etwas Unverständliches. Das erinnerte Cynna an ihren Talisman. Sie legte die Hand darum, und das Flüstern sagte ihr, dass der Gnom Daniel bat, die Gäste eintreten und sich vor irgendeiner großen Sitzung ausruhen zu lassen, und ihm sagte, er könne seine Tochter zu ihren Gemächern begleiten.
Daniel sah hinunter auf den Gnom, nickte und sagte etwas, das der Talisman als eine höfliche Zustimmung übersetzte und redete dann wieder auf Englisch weiter. „Kommt. Kommt herein. Wir reden, solange wir können, bis ihr … ach! Auch wenn es mir schwerfällt, etwas anderes zu glauben, aber du bist ja nicht nur hier, um mein Herz zu erfreuen.“
Sie war hier, weil sie entführt worden war. Bei diesem Gedanken trat sie einen Schritt zurück und sah sich um. Cullen stand neben ihr, das Gesicht so ausdruckslos, wie sie es noch nie gesehen hatte. Gewöhnlich versteckte er seine wahren Gefühle hinter einem Lächeln oder Worten. An seiner Seite befand sich Ruben in einem hölzernen Rollstuhl, den sie jetzt zum ersten Mal bemerkte. Eine der grau gekleideten Wachen stand hinter ihm. Er war so groß und breit wie Tash und hatte dieselbe Hautfarbe, aber keine Stoßzähne.
„Wir würden uns alle über eine Gelegenheit freuen, uns vor der Sitzung des Stadtrats ein wenig zu erfrischen und auszuruhen“, sagte Ruben. „Aber wir werden gemeinsam zu unseren Zimmern gehen. Haben Sie uns die gewünschten nahe beieinander liegenden Zimmer gegeben?“
„Aber selbstverständlich“, sagte Bilbo. „Uns liegen am Herzen Eure Bequemlichkeit. Wir …“
Sie hörten ein Lachen aus der geöffneten Tür … und kurz danach trat eine Frau ins Freie. „Ehrenwerter Rat“, sagte sie in einwandfreiem Englisch mit glockenheller Stimme, zart wie ein Nebelhauch, „durch ein Tor gezerrt und als Abendessen für die Dondredii im Schnee serviert zu werden, entspricht vermutlich nicht ihrer Vorstellung von Bequemlichkeit.“
„Das“, sagte Bilbo einigermaßen würdevoll, „war nicht, was wir beabsichtigten zu geschehen.“
„Aber nun sind sie hier“, sagte sie nachsichtig, während sie die Treppe herunterschwebte. „Vielleicht werden sie Euch vergeben, wenn sie hören, wie groß Eure Not ist.“
Sie war nur ein wenig kleiner als Cynna und viel schlanker. Ihre Knochen waren so zart wie die eines Kindes. Ihre Haut war dunkel, genauso wie ihre Augen, ihr Haar dagegen reinweiß. Vorne war es kurz geschnitten und fiel in wilden Locken um ihr Gesicht, aber in ihrem Rücken wirbelte es um ihre Hüften wie ein schäumender Wasserfall. Sie trug ein langes weißes Kleid ohne Ärmel. Es war weit geschnitten und wurde in der Taille von einer Schärpe in der Farbe des Himmels in der Dämmerung zusammengehalten. Ihre Füße waren bloß, und sie trug keine Unterwäsche … was Cynna mühelos feststellen konnte, denn das Kleid war transparent.
Ihre Gesichtszüge waren fremdartig und schön und erinnerten an die einer Katze – weit auseinanderstehende Augen, hohe Wangenknochen und ein zartes, spitzes Kinn. Ihre Ohren waren lang und spitz.
„Ich habe mir schon lange gewünscht, einmal einen Lupus kennenzulernen“, sagte die Elfe und ging schnurstracks auf Cullen zu, um dann viel zu nah vor ihm stehen zu bleiben. Sie legte ihm die Hände auf die Brust, neigte den Kopf zur Seite und lächelte, den Blick fest auf ihn gerichtet.
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