Wolf Shadow Bd. 5 - Tödliche Versprechen
dir beschrieben?«
Talias Lippen zuckten. »Darum habe ich sie ganz oft gebeten, aber Geister sind ziemlich dumm. Sie haben nur immer wieder dasselbe zu mir gesagt. Und ›hilf uns!‹.« Ihre Augen glänzten, aber sie schob trotzig das Kinn vor. »Das sagen sie, und manchmal weinen sie auch. Nicht der große Mann, aber manche weinen wirklich oft. Ich hasse das. Aber die Neuen … das sind die Schlimmsten. Heute Nacht haben sie in meinem Kopf geschrien, und das ist, als wenn … als wenn sie an meinem Gehirn reißen würden. Schrecklich.«
Lily nahm Talias Hand. »Es tut mir sehr leid, dass du damit leben musst. Damit könnten selbst viele Erwachsene nicht umgehen. Tut das Schreien dir körperlich weh?«
»Nein, aber es … es fühlt sich einfach furchtbar an.«
Lily nickte. »Schmerz muss nicht unbedingt körperlich spürbar sein. Diese neuen Geister … Ich muss wissen, wie viele es sind und was an ihnen anders ist.«
»Fünf. Der Junge, das Mädchen und ihre Mutter – das sind die, die von ihrem Vater getötet wurden. Ich bin mir ziemlich sicher, obwohl sie es mir nicht sagen wollen. Und die beiden Neuesten sind heute erschossen worden.«
»Ich verstehe. Und sie sind anders als die anderen?«
Talia nickte. »Normalerweise sind es die Älteren, die ganz dünn und durchsichtig sind, wie zerknittertes Seidenpapier. Es ist irgendwie, als würden sie sich abnutzen. Außer dem großen Mann – der ist zwar alt, aber ich sehe ihn noch scharf, und er ist auch vernünftiger als die anderen. Ich weiß nicht, warum. Aber die … sie sind neu, aber verschwommen und ausgefranst, als wären sie schon sehr alt. Und sie schreien mich an. Die anderen tun das nicht.« Talias bebende Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Sie halten mich doch nicht für verrückt? Oder … oder für besessen? Oder denken Sie, dass ich das alles nur erfinde?«
»Nein. Du weißt doch, ich kann deine Gabe spüren.«
»Sagen Sie es meinen Eltern?«
»Ich hoffe, du tust das. Moment, Moment«, sagte Lily, als Justin und Talia beide auf einmal zu reden anfingen und ihre Worte übereinanderstolperten wie aufgeregte Hundewelpen. »Ich weiß, ihr glaubt, sie würden es nicht verstehen. Ihr habt Angst, dass sie glauben, deine Gabe sei böse. Manche Leute denken wirklich so, weil Magie unheimlich sein kann und sie sie nicht verstehen. Ihr habt vielleicht sogar recht. Möglicherweise reagieren sie wirklich so, wie ihr befürchtet. Ich weiß es nicht. Aber wenn ihr nichts dagegen habt, möchte ich euch etwas über mich erzählen.«
Talia und Justin sahen sich an. Talia nickte.
»Ich bin eine Sensitive. Das habe ich euch schon gesagt. Aber bis vor acht Monaten hätte ich es euch verschwiegen. Meine Familie wusste davon, das unterscheidet mich von euch. Und sie akzeptierten es, aber ich wusste auch, dass sehr viele Leute anders dachten. Ich wollte normal sein – oder das, was ich für normal hielt – und ich wollte mich nicht mit den merkwürdigen Vorstellungen auseinandersetzen, die die Leute von Sensitiven hatten. Deswegen habe ich es bis vor Kurzem niemandem gesagt.«
»Aber jetzt tun Sie es.«
Lily nickte. »Ja, jetzt tue ich es. Und wisst ihr was? So ist es besser. Manche Menschen verstehen es nicht und machen sich deswegen ein falsches Bild von mir. Manche sind auch unhöflich, aber die meisten sind es nicht. Und ich atme jetzt leichter, weil ich mich nicht mehr verstecken muss. Habt ihr euch schon mal etwas gebrochen?«
Talia blinzelte überrascht. »Ja, Ma’am. Meinen Arm. Hier, sehen Sie? Jetzt ist es wieder gut. Ich habe ihn mir in der dritten Klasse gebrochen.«
»Weißt du noch, wie es sich anfühlte, als der Gips abkam? Die Haut war ganz weich und zart und dein Arm schwach, weil du ihn so lange nicht benutzt hattest. Du hattest das Gefühl, du müsstest immer noch so vorsichtig damit umgehen, als ob er ganz verletzlich wäre – aber ich wette, du wolltest den Gips trotzdem nicht zurück. Stimmt’s? So habe ich mich gefühlt, als ich aufgehört habe, meine Gabe zu verheimlichen.«
Talia dachte eine Weile nach. »Aber Ihre Familie wusste es schon. Sie hatte nichts gegen Ihre Gabe.«
Lily nickte. »Und das ist ein bedeutender Unterschied. Aber auch du hast jemanden in deiner Familie, der von deiner Gabe weiß und dir zur Seite steht. Dein Bruder. Und er denkt nicht, dass du böse bist. Oder nicht mehr als jeder andere kleine Bruder auch.« Sie lächelte Justin zu, und er grinste zurück. »Was du nicht hast – und was du
Weitere Kostenlose Bücher