Wolf unter Wölfen
nach seiner Zeitung. »Jetzt gehen Sie man schlafen«, sagt er. »Wenn Sie eine Geständige dazu überreden wollen, ihr Geständnis zurückzuziehen, da können Sie noch ziemlich lange auf Besuchserlaubnis warten. Und schreiben dürfen Sie ihr dann auch nicht, das heißt, sie bekommt Ihre Briefe nicht. Das ist ja noch schöner! Und ich soll mich dazu hergeben, Ihnen hier heimlich einen Besuch zu verschaffen. Nein, nun gehen Sie man nach Haus. Jetzt habe ich genug davon.«
Pagel steht wieder zögernd. Dann sagt er bittend: »Aber das gibt es doch, das kommt doch vor, daß jemand etwas gesteht, was er gar nicht getan hat. Das habe ich schon oft gelesen.«
»So, haben Sie das gelesen?« fragt der Alte fast giftig. »Dann will ich Ihnen sagen, junger Mann, daß jemand, der was Falsches gesteht, immer was viel Schlimmeres ausgefressen hat. Jawohl, einer gesteht einen Einbruch, weil er zur selben Stunde einen Mord begangen hat. So ist das. Und wenn Ihre Freundin gestanden hat, so wird sie auch wohl wissen, warum. Da würde ich mich sehr hüten, ihr dreinzureden. Sonst fällt sie noch viel schlimmer rein!«
Sehr zornig schielt der Alte, jetzt schon wieder durch den Kneifer, auf Pagel. Der aber steht wie vom Donner gerührt. Die Worte des Alten, die ganz anders gemeint sind, haben ein neues Licht auf Petras Geständnis geworfen. Jawohl, jawohl, etwas gestanden, um etwas Schlimmeres zu vermeiden, Krankheit und Straße gestanden, um Wolfgang zu vermeiden. Gefängnis besser als Gemeinschaft. Vorbei, vorbei! Glauben verloren, Vertrauen endgültig verloren – fort von ihm, fort aus der Welt, hinaus aus dem Unerträglichen in das zu Ertragende! Ein hoher Gewinn wiederum verloren. Blank, alle …
»Ich danke Ihnen auch«, sagt Pagel sehr höflich. »Sie haben mir wirklich einen guten Rat gegeben.«
Und langsam geht er den Gang hinunter, von der Pforte fort, verfolgt von den mißtrauischen Blicken des Alten.
Es ist grade die rechte Zeit, seine Sachen aus der Tannenstraße abzuholen. Um diese Stunde erwartet ihn die Mutter bestimmt nicht. Um diese Zeit schläft sie fest. Auf dem Alexanderplatz findet er bestimmt eine Taxe. Gottlob, daß Studmann mit Geld ausgeholfen hat, Studmann, der Nichtspieler, der einzige Kapitalist, Studmann, der Hilfreiche, Studmann, die Vorsehung der verregneten Hühner, die Hilfskasse der Abgebrannten. – Übrigens im Ernst, der Umgang mit Studmann muß wohltuend sein, beinahe ist es so, als könnte man sich auf Neulohe und Studmann freuen.
NEUNTES KAPITEL
Ein neuer Start am neuen Tag
1
In einem Hotelzimmer, auf einem Bett, liegen ein Mädchen und ein Mann. Der Mann schläft dicht an der Wand, in dem nicht breiten Bett bläst er leise pfeifend den Atem durch die Nase. Das Mädchen ist eben wach geworden, das Kinn auf die verschränkten Arme gelegt, auf dem Bauche liegend, blinzelt es zu den beiden Fensterrechtecken, die schon hell sind.
Das Mädchen hört: Das Geräusch von Schnellbahnzügen, die in einen Bahnhof einfahren; das stöhnende Gepuff einer Lokomotive; Geschilp von Spatzen; viele Fußgängerschritte, eilig, hastig, eilig; nun schüttert das Zimmer mit allem, was darin ist, von einem schnell fahrenden, schweren Gefährt – das muß ein Autobus sein, überlegt das Mädchen –, und jetzt, ungewohntes Geräusch unter so vielen gewohnten, tutet ganz nah ein Dampfer, zwei-, dreimal, fordernd, ungeduldig …
Das Mädchen, Sophie Kowalewski, ist ihrem Entschluß treu geblieben: zum Abschied ist sie in der Altstadt bummeln gegangen, und nun ist sie in einem Hotel an der Weidendammer Brücke gelandet – daher das Dampfertuten, auf der Spree fahren Dampfer – oder ist dies hier gar nicht die Spree –?
Leise, behutsam, den Mann nicht zu wecken, schlüpft Sophie Kowalewski aus dem Bett, läuft, wie sie ist, ans Fenster und hebt einen Zipfel des Vorhangs. Strahlend blau steht der Himmel über den Eisenbogen der Brücke.
Herrliches Wetter werde ich in Neulohe haben, denkt Sophie. Großartige Sache: am Eingang des Waldes unter einem Baum liegen und sich schmoren lassen … keine Gnädige … Badeanzug Fehlmeldung … Und abends, wenn der Mond hochkommt, ganz nackt in den kalten Krebsteich mitten im Walde …
Sie läßt den Zipfel des Vorhangs fahren und macht sich rasch an Waschen und Anziehen. Sie spült sich nur so ein bißchen ab, gurgelt flüchtig – all das kann sie noch gründlich im Hospiz besorgen, sie hat Zeit genug, bis ihr Zug geht. Eine freudige Spannung, etwas wie das Vorgefühl
Weitere Kostenlose Bücher