Wolf unter Wölfen
eifrig miteinander diskutieren; auf einem Treppenpodest steht der lange, knochige Vermittler mit dem weißen, haarlosen Schädel, spricht beruhigend zu seinen Bedrängern, sucht die Halle mit den Augen ab, späht nach dem Eingang …
Der Rittmeister zieht sich weiter hinter seinen Pfeiler zurück – ach, diese Rotte Korah, dieser Haufe Unglück, der ihm beschert sein soll! Er sieht keine Möglichkeit, ungesehen hindurchzukommen – warum hat dieser verdammte Bahnsteig nicht mehr Aufgänge –?!
Und ich nehme die Leute nicht, ich nehme sie unter gar keinen Umständen! Ich mache mich nicht zum Gespött der ganzen Gegend! Ich lasse mich nicht auslachen! In Seidenfähnchen und Stöckelschuhen zum Roggenpuppen! Kein Hemd zum Wechseln, nicht eine Hose! Wenn die Bande einmal naß wird, sitzt alles splitterfadennackt so lange in der Bude, bis das Zeug wieder trocken ist! Paradiesische Zustände! Nein, lieber noch Zuchthäusler!
Der Rittmeister späht um den Pfeiler – aber er prallt zurück.
Der Vermittler hat seinen erhöhten Aussichtspunkt verlassen; auf der einen Seite das Mädchen mit Kind in der Schlampenbluse, auf der andern den alten Knacker mit Botanisiertrommel im Bratenrock, strebt er, aufgeregt redend, dem Bahnhofseingang zu – und der Rittmeister möchte inseinen Pfeiler hineinkriechen, versteinern, sich auflösen, so sehr graut ihm vor diesem Trio!
Und grade in diesem Augenblick, in diesem kritischsten aller kritischen Augenblicke – tönt eine etwas rauhe, aber gar nicht unangenehme Mädchenstimme an sein Ohr: »Oh, der Herr Rittmeister!«
Er fährt herum und starrt.
Ja, wahrhaftig: vor ihm steht, er weiß nicht, woher gekommen, also tatsächlich wie vom Himmel gefallen, die Tochter seines Leutevogts Kowalewski, ein Mädchen, das er unter den törichten und plumpen Hofgängerinnen des Gutes wegen seiner frischen Art und seiner zierlichen Schönheit immer gerne gesehen und mit manchem väterlich freundlichen Wort ausgezeichnet hat.
»Sophie!« sagt er ganz verblüfft. »Was machst du denn hier, Sophie?«
(Die Hofgängermädchen, die vom vierzehnten Jahre an auf dem Gut arbeiteten, wurden alle mit »du« angeredet. Und dabei blieb es – auch wenn sie, wie die Sophie, in die weite Welt hinauszogen.)
»Ich fahr zu den Eltern in Urlaub!« lacht sie und sieht ihn ganz töchterlich an.
»Ach, Sophie!« sagt er eifrig. »Du kommst mir wirklich wie vom Himmel gesandt! Auf der andern Seite vom Pfeiler der Mann mit der Glatze, ja, der große – guck nicht so hin, Sophie! –, der darf mich unter keinen Umständen sehen, und ich muß zum Zug! Es sind nur noch drei Minuten. Kannst du ihn nicht irgendwie festhalten, nur so lange, daß ich durch die Eingangshalle flutsche, meine Karte habe ich schon –. Danke, danke, Sophie, im Zuge erkläre ich dir alles. Bist immer noch ein großartiges Mädchen! – Los –!«
Er hört eben noch ihre Stimme, hoch, sehr streitsüchtig: »Stehen Sie doch nicht mitten im Wege! Ich muß zu meinem Zug! Fassen Sie lieber meine Koffer an …«
Großartiges Mädchen! denkt er noch einmal. Aber mächtig verändert. Bißchen aufgetakelt …
Er rennt, rennt, was er kann, gar nicht wie ein Rittmeister, gar nicht wie ein Brotgeber – die Sperre, da vorne ist schon die Sperre …
Aber vielleicht hat der Kerl Bahnsteigkarten! – Dolle Schatten unter den Augen. Und das Gesicht, so dick geworden, alles Feinere ist weg. Richtig aufgeschwemmt, ja, wie von Schnaps …
»Ich weiß, danke, ich weiß Bescheid, der Zug links – fahre hier nicht zum ersten Male! Danke!«
Gottlob, das hätten wir geschafft! Aber sicher bin ich erst, wenn der Zug fährt … Ja, ich fürchte, die kleine Sophie ist schon früher ein bißchen scharf rangegangen mit den jungen Kerls im Dorfe, habe mal so was gehört – und Berlin ist ein schwieriges Pflaster … Davon kann ich auch ein Lied singen …
Gottlob, da winkt Pagel!
»Na also, meine Herren, das hätte ich ja geschafft. – Bitte, Studmann, bitte, Pagel – stellt euch ans Fenster, daß niemand reingucken kann, der Kerl ist imstande und revidiert noch die Abteile! Ich muß mich erst mal trockenlegen, ich schwimme gradezu – so ein Dauerlauf am frühen Morgen …«
»Du bist also unbehelligt durchgekommen?« fragt Studmann.
»Schwierig war es! Und wißt ihr, wer mir geholfen hat –? Die Tochter von meinem Leutevogt! – Sie kam grade, fährt zu ihren Eltern in Urlaub, ist hier in Berlin Zofe bei irgendeiner Gräfin … Ihr könntet eigentlich
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