Wolf unter Wölfen
rittmeisterliche Haus seltsam vorkommen, ein wenig ungeordnet – es ist reichlich viel geschehen in den knapp zwei Tagen, die er bei ihnen ist!
Sie bleibt auf der Hoteltreppe im Regen stehen. Herr Finger nimmt würdig hinter dem Steuer Platz. Der Wagen grollt auf und fährt langsam los – Frau Eva geht zurück ins Hotel. Nun läuft sie die Treppen hinauf, sie hat das Gefühl, oben müsse unterdes etwas geschehen sein, ihr Herz klopft rascher. Ach, wenn doch etwas geschehen, wenn Violet doch aufgewacht wäre! Daß man mit ihr sprechen könnte! Jetzt könnte sie mit ihr sprechen …
Aber Violet schläft fest.
Jetzt könnte sie mit ihr sprechen, aber es geht nicht, Weio schläft. Ihre Mutter sitzt am Bett, sie sieht das Kind an – sie müßte ihr erzählen können! Frau Eva hat plötzlich begriffen, wieviel sie falsch gemacht hat, sie begreift gar nicht mehr, wie sie zu einer so würdelosen Schnüffelei gekommen ist. Grade dadurch, daß sie ihr nachspionierte, hat sie sich die Tochter fremd und feindlich gemacht. Sie wird nie wieder in diesen Fehler verfallen. Sie hat gelernt, daß ihr Kind jetzt eigene Bezirke hat, in die der Mutter der Eintritt verboten ist. Grade der Mutter, weil sie nicht nur Mutter, sondern auch Frau ist!
Es klopft!
Nun kommt also der Arzt. Es ist ein älterer, hagerer Herr mit merkwürdig blassen Augen hinter einer unmöglichen Nickelbrille, mit recht ungeschickten Manieren, sicher ein Junggeselle. Sie wird schon ungeduldig, wie sie ihn umständlich den Puls prüfen, so zufrieden mit dem Kopf nicken sieht – als sei er der liebe Gott, der diesen Pulsschlag kräftig gemacht hat. Natürlich weiß der Mann gar nichts! Er redet etwas von einem Schock, von der Notwendigkeit, eine längere Zeit zu schlafen, eine Pause einzulegen, auch nach dem Erwachen alles Fragen zu lassen, das verletzte Gemüt des Mädchens zu schonen …
Was weiß dieser langweilige Kasper von dem verletzten Gemüt ihrer Tochter! Er hat sie ja nur ohne Besinnung, ohne Bewußtsein gesehen! Nicht einmal mit Achim hat er gesprochen, wie sich nun herausstellt, auch über ihn kann er keinerlei Auskunft geben.
Wie lange wird Violet schlafen? Bis Mitternacht, wahrscheinlich bis zum nächsten Morgen? Wahrhaftig, dies ist das einzige, was dieser Tölpel fertiggebracht hat, ihr die Weio gerade in den Stunden, wo sie am meisten mütterliche Liebe braucht, zu entziehen!
Kann man das Mädchen wenigstens aus diesem schrecklichen Hotelzimmer heute noch nach Haus bringen? Wann –? Nun, sobald ihr Mann zurück ist! Er hat keine Bedenken? Sie wird auch auf einer Autofahrt nicht erwachen?
»Schön, schön, also wir fahren dann, sobald Herr von Prackwitz zurück ist. Ich danke Ihnen, Herr Doktor. Darf ich das Honorar gleich erledigen, oder schicken Sie uns Ihre Liquidation?«
»Es kommt, gnädige Frau«, sagt der Arzt und hat sich ohne Aufforderung gesetzt, »alles auf den Augenblick des Erwachens an …« Er sieht sie freundlich, aber sehr fest an.
Ja, natürlich. Das versteht Frau von Prackwitz auch. Darum will sie Violet ja aus diesem trostlosen Hotelzimmer in die gewohnte freundliche Umgebung bringen!
»Vielleicht ist grade das falsch«, sagt der Arzt. »Vielleicht darf sie nichts Gewohntes sehen, wenn sie aufwacht. Nicht ihr altes Zimmer, kein bekanntes Gesicht – vielleicht nicht einmal Sie, gnädige Frau.«
»Aber warum glauben Sie denn das, Herr Doktor?« ruft Frau von Prackwitz ärgerlich. »Ich weiß doch, was geschehen ist. Irgendeine kleine Liebesgeschichte, die meine Tochter tragisch genommen hat. Ich bin kein Moralfex, ich werde ihr nicht die geringsten Vorwürfe machen …«
»Eben, eben«, lächelt der Arzt. »Sie sagen, kleine Liebesgeschichte – und das Fräulein da verliert darüber fast den Verstand. Das sind zwei Welten, gnädige Frau, zwei ganz verschiedene Welten, die sich nie verstehen können …«
»Violet wird darüber wegkommen …«, fängt Frau von Prackwitz an.
Aber der Arzt unterbricht sie ganz formlos: »Ich habe seit heute mittag darüber nachdenken müssen, gnädige Frau, vielleicht habe ich einen Fehler gemacht. Ich hätte heute mittag vor der Spritze das kleine Fräulein sprechen lassen müssen. Sie war nicht bewußtlos, nein, gnädige Frau, sie war es nicht, sie hat Bewußtlosigkeit nur simuliert … Sie hat irgend etwas Schreckliches erlebt, aber sie hat noch mehr Angst vor etwas Schrecklichem, das sie erleben
soll
. – Verzeihen Sie, gnädige Frau«, sagt der Arzt. »Natürlich kann ich
Weitere Kostenlose Bücher