Wolfgang Hohlbein -
Theowulf.
»Nun, um davonzulaufen, muß man ein Gefangener sein
- oder ein Leibeigener«, antwortete Tobias.
Theowulfs Gesicht verdunkelte sich vor Zorn. »Hört mit diesen Haarspaltereien auf«, verlangte er. »Ihr wißt ganz genau, was ich meine. Ich hatte Euer Wort, daß Ihr auf dem Schloß bleibt, bis ich zurück bin.«
»Und Ihr habt auch alles in Eurer Macht Stehende getan, um dafür zu sorgen, daß ich es halte, nicht wahr?« fragte Tobias.
»Was soll das heißen?«
»Nichts«, antwortete Tobias. »Es war . . . Unsinn. Verzeiht!«
Theowulf blickte ihn finster an, ging aber nicht weiter auf das Thema ein. »Es war wirklich nicht sehr klug von Euch, mutterseelenallein und nachts das Schloß zu verlassen«, begann er von neuem. »Ist Euch eigentlich klar, was Euch alles hätte zustoßen können?«
»Nein«, antwortete Tobias. »Was denn zum Beispiel?«
»Ihr hättet Euch verirren können.« Theowulf ballte ärgerlich die linke Hand auf dem Tisch zur Faust. »Es gibt wilde Tiere in den Wäldern hier. Ihr hättet vom Pferd stürzen und Euch schwer verletzen können. Und hundert andere Dinge.«
Wie zum Beispiel ein Dutzend Höllenreiter mit weißen Knochengesichtern, fügte Tobias in Gedanken hinzu,
schwieg aber.
»Warum habt Ihr nicht wenigstens die Eskorte mitreiten lassen, die ich für Euch bereitgestellt hatte«, fuhr Theowulf verärgert fort. Aber es war keine Frage, auf die er eine Antwort erwartete, denn er sprach sofort weiter. »Ihr seid ein kluger Mann, Tobias. Aber nach dem, was Ihr gestern getan 262
habt, glaube ich, daß Ihr auch zugleich sehr dumm seid.«
»Weil ich mich Eurem Willen widersetzt habe?«
»Weil Ihr Euch selbst in Gefahr gebracht habt!« antwortete Theowulf aufgebracht. »Ihr hättet ums Leben kommen können! Glaubt Ihr, daß damit irgendeinem in diesem Ort geholfen wäre?«
Tobias wollte antworten, doch in diesem Moment breitete sich die Übelkeit wie eine klebrige, warme Woge in seinem ganzen Körper aus und schnürte ihm die Kehle zu. Der Speichel floß so schnell in seinem Mund, daß er ihn nicht mehr hinunterschlucken konnte. Ein heftiger, krampfartiger Schmerz zog seinen Magen zusammen. Er stöhnte, krümmte sich und suchte mit zitternden Fingern an der Tischkante Halt, um nicht vollends von der Bank zu stürzen.
Theowulf wurde bleich und sprang auf. »Tobias! Was habt Ihr?«
Der Schmerz wurde schier unerträglich. Theowulf war mit zwei, drei raschen Schritten um den Tisch herum und streckte die Hände nach ihm aus, aber Tobias sah ihn kaum noch. Alles drehte sich um ihn herum. Alles verzerrte sich und wurde unwirklich. Rote Fäden aus Schmerz erschienen vor seinen Augen, und sein Magen schien sich in einen sta-cheligen Ball aus Eisen zu verwandeln. Er wankte, kippte zur Seite und stürzte nur deshalb nicht von der Bank, weil der Graf gedankenschnell Zugriff und ihn festhielt.
Dann wurde der Schmerz übermächtig. Tobias bäumte sich auf, stürzte nach vorn und erbrach sich würgend in Theowulfs ausgestreckte Hände, ehe er das Bewußtsein verlor.
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Feuer und Eis: die Hitze des Fiebers, das seinen Körper von innen heraus verbrannte, und Schüttelfrost, der jedes biß-
chen Wärme aus seinen Gliedern sog. Schmerz, Übelkeit und Krämpfe, Licht, Dunkelheit und Stimmen, die ihn 263
umgaben, mit ihm sprachen, Hände, die ihn berührten, ihn zudeckten, ihn wuschen und ihm manchmal kleine Mengen kalter Flüssigkeit einflößten. An all das und die zusammen-hanglosen Bilder der Fieberträume erinnerte er sich später, wenn er an diese beiden Tage und Nächte zurückdachte, in denen er auf Leben und Tod lag. Und obwohl er in dieser Zeit selten das Bewußtsein erlangte, wußte er doch, wie es um ihn stand. Und vielleicht war es dieses Wissen, das ihn letztendlich rettete. Er durfte nicht sterben. Wenn er starb, dann siegte der Tod gleich zweimal, nicht nur über ihn, sondern auch über Katrin.
Dann würde die Hölle triumphieren. Über diese Stadt und ihre Bewohner und über ihn, denn er hatte gesündigt. Er hatte seinen Glauben und seinen Gott verleugnet, und er hatte sich der Todsünde der fleischlichen Lust hingegeben; daß es nur im Traum geschehen war, machte es keinen Deut besser.
Am Morgen des dritten Tages erwachte er zum ersten Mal wirklich. Es war noch dunkel, aber jemand hatte eine Kerze entzündet, die das Zimmer in ein gelbes, ruhiges Licht tauchte, und in der matten Helligkeit erkannte er Marias Gestalt, die zusammengesunken auf einem Schemel neben
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