Wolfgang Hohlbein -
empfinden. Dieses Wesen vor ihm kannte nicht einmal mehr den Haß. Ja, es wußte nicht einmal, was Erbarmungslosigkeit war, denn um erbarmungslos zu sein, mußte man das Erbarmen kennen, um zu hassen die Liebe, um zu wüten die Freude. In Katrins Augen war nichts.
»Was ist mit dir?« fragte sie noch einmal. »Willst du mich nicht? Ich habe so lange auf dich gewartet. Komm.« Sie streckte die Arme nach ihm aus, aber er stieß sie von sich, sprang mit einer entsetzten Bewegung auf die Füße und prallte zwei, drei Schritte zurück.
»Nein!« brüllte er. »Nein! Weiche! Weiche von mir!«
Katrin lachte. Sie erhob sich mit einer fließenden Bewegung und kam ihm nach. Tobias wollte fliehen, aber seine Füße verfingen sich in dem Gewirr aus Pilzen und Wurzelge-flecht, das den Boden durchzog. Er strauchelte und schlug schwer auf den Boden auf, der noch immer weich und kleb-255
rig war, zugleich aber so hart, daß ihm der Aufprall fast das Bewußtsein raubte. Katrin kam näher. Sie lachte, und ihre Stimme war noch immer dieser goldene, glockenhelle Elfen-klang, der jeden einzelnen Nerv in seinem Körper vibrieren ließ. Vielleicht war dies das Entsetzlichste von allem: daß er die Gefahr erkannt hatte. Er wußte, daß das Wesen vor ihm alles war, nur nicht Katrin, und daß er für die Vereinigung mit ihr einen Preis würde bezahlen müssen, der schlimmer war als der Tod oder die Verdammnis der Hölle. Und doch begehrte er sie.
»Warum wehrst du dich?« fragte Katrin. »Liebst du mich nicht mehr? Du bist doch gekommen, um mich zu retten.
Jetzt tue es.«
Tobias schrie in heller Panik auf, als sie neben ihm auf die Knie herabsank und die Hände nach ihm ausstreckte. Er fegte ihre Arme beiseite, schlug mehrmals das Kreuzzeichen und versuchte, rücklings vor ihr davonzukriechen, aber er kam nicht von der Stelle. Der Boden verwandelte sich vollends in einen klebrigen Sumpf, in den seine Hände bis über die Knöchel einsanken und keinen Halt fanden, und aus den dünnen Pilzfäden wurden glühende Stricke, die sich tief in seine Haut gruben und ihn fesselten.
»Wehre dich nicht«, flüsterte Katrin. »Es hat doch keinen Zweck. Du belügst dich nur selbst. Du willst mich, Tobias.
Dein ganzes Leben lang hast du nur an mich gedacht. Warum willst du dich quälen?« Sie beugte sich weiter vor. Ihre Lippen, voll und rot und verlockend, kamen näher, berührten seine Stirn, seine Wangen und schließlich seinen Mund.
Tobias bäumte sich auf. Er schrie. Seine Hände waren noch immer gefesselt, aber er warf seinen Oberkörper hin und her und trat mit den Beinen aus. Er schrie wie von Sinnen - und plötzlich erlosch Katrins Lächeln, und sie holte aus und schlug ihm mit aller Macht ins Gesicht.
Der Hieb ließ seinen Kopf in den Nacken fliegen. Er stöhnte vor Schmerzen, bäumte sich aber gleich wieder auf und riß verzweifelt an den unerbittlichen Fesseln, die seine Hände am Boden hielten. Katrin rief irgend etwas, das er nicht verstand, und plötzlich veränderte sich ihre Stimme, 256
wurde dunkler und gleichzeitig zorniger, und dann traf ein zweiter, noch kräftigerer Hieb seine andere Wange und warf ihn abermals zurück.
Vor seinen Augen begannen sich bunte Kreise zu drehen.
Der Alptraumwald und die Lichtung und auch Katrins
Gesicht verschwammen vor seinem Blick, flössen auseinander und wurden zu wirren Farbklecksen ohne Sinn und Zusammenhang. Und dann traf ihn ein dritter Schlag, und Katrins Stimme, die nicht mehr Katrins Stimme war, schrie seinen Namen:
»Tobias!«
Stöhnend öffnete er die Augen. Er war nicht mehr im Wald, sondern lag wieder im Ehebett Bressers. Aber er war noch immer gefesselt. Was ihn niederhielt, waren Bressers kräftige Hände, die seine Arme gegen das Bett preßten. Und die Faust, die dreimal hintereinander in sein Gesicht gefahren war und ihn ins Leben zurückgeprügelt hatte, gehörte nicht Katrin, sondern Maria, deren schreckensbleiches Gesicht über ihm schwebte.
Tobias hörte endlich auf, sich gegen Bressers Griff zu wehren, und sank erschöpft in die Kissen zurück. »Es ist ...
gut«, flüsterte er.
Maria atmete erleichtert auf. Aber Bresser hielt ihn weiter fest, wenn auch nicht mehr mit ganz so unerbittlicher Kraft wie bisher.
»Seid Ihr wach?« fragte Maria zögernd.
Selbst das schwache Kopfnicken, mit dem Tobias antwortete, überstieg beinahe seine Kräfte, und seine Stimme war ein so mattes Flüstern, daß es ihn wunderte, daß Maria ihn überhaupt verstand.
»Ja. Ihr könnt
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