Wolfgang Hohlbein -
um 259
ihn zu stützen. Tobias versuchte tapfer, aus eigener Kraft zu gehen, aber er mußte allein dreimal nach Bressers Hand greifen, bevor er das Schlafzimmer verließ, und zwei weitere Male, um den kurzen Flur zu überqueren und sich unter der Tür zur Stube hin durchzubücken.
Graf Theowulf saß am Tisch. Auf seinem Gesicht lag ein finsterer, beinahe zorniger Ausdruck, und seine Finger trom-melten nervös auf der Tischplatte. Aber der Ärger auf seinen Zügen machte jähem Schrecken Platz, als Tobias eintrat und er in sein Gesicht blickte. Abrupt sprang er auf, warf Bresser einen erschrockenen, fragenden Blick zu und eilte Tobias entgegen.
»Pater Tobias!« rief er aus.
»Was habt Ihr? Seid Ihr krank?«
»Nein«, antwortete Tobias. Um seine Behauptung zu
beweisen, ließ er Bressers Hand los und straffte die Schultern; was beinahe seine Kräfte überschritten hätte. Trotzdem fügte er hinzu: »Ein kleiner Schwächeanfall. Kein Grund zur Beunruhigung.«
Tobias entging nicht die rasche, wortlose Verständigung, die zwischen dem Grafen und Bresser stattfand. Er fragte sich, ob es richtig gewesen war, Marias Rat in den Wind zu schlagen und herzukommen. Was immer Theowulf von ihm wollte, er war kaum in der Lage, mit ihm zu diskutieren, geschweige denn, ihm zu widersprechen.
Er zog die Hand endgültig von Bressers Arm fort und ging zum Tisch; mit kleinen, schlurfenden Schritten wie ein Greis. Die Übelkeit in seinen Eingeweiden wuchs, und aus seinen Beinen schien jegliche Kraft zu weichen. Tobias spürte, wie kalter, klebriger Schweiß aus all seinen Poren trat und seine Kutte durchtränkte. Er fiel mehr auf die Bank herab, als er sich setzte. Mit aller Macht mußte er gegen die Verlockung ankämpfen, einfach den Kopf nach vorn sinken zu lassen, die Stirn auf den Händen zu betten und die Augen zu schließen. Der Schlaf der vergangenen Nacht hatte ihn Kraft gekostet, statt ihn zu erfrischen. Die Übelkeit wühlte immer heftiger in seinen Eingeweiden. Bitterer Speichel sammelte sich unter seiner Zunge. Er schluckte ihn hinunter.
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Der Graf blieb noch einen Moment stehen und sah verwirrt auf ihn herab. Dann ging er zu seinem Platz auf der anderen Seite des Tisches zurück und setzte sich ebenfalls wieder. »Ihr seht nicht gesund aus, Tobias«, sagte er. »Wenn Ihr Euch nicht wohl fühlt, dann komme ich gern ein anderes Mal wieder, um mit Euch zu sprechen.«
Tobias gab seinen Muskeln den Befehl, den Kopf zu schütteln, aber er war nicht sicher, ob sie es auch wirklich taten.
»Das ist nicht nötig«, murmelte er. Er konnte nicht weitersprechen, weil sich sein Mund schon wieder mit Galle füllte und er sie kaum so schnell hinunterzuschlucken vermochte, wie er kam.
»Was ist los mit Euch?« fragte Theowulf geradeheraus.
»Ich habe Schreie gehört.«
Tobias raffte all seine Kraft zusammen, um den Kopf zu heben und den Grafen anzusehen. Theowulf saß auf der anderen Seite des Tisches. Je nachdem, wie Tobias seinen Kopf hielt, konnte er die Züge des Grafen erkennen oder auch nicht. Es war ein furchtbares Wechselspiel aus klarem Blick und entsetzlichen Visionen. Der Mönch kam sich vor, als wäre er in jener Welt der Alpträume in das Netz einer gewaltigen Spinne geraten. Und es klebten noch einige dieser Fäden an seiner Haut und versuchten, ihn zurückzuzerren.
»Es war nur ein Traum«, wiederholte er, »nichts weiter.«
Theowulfs Augenbrauen zogen sich zweifelnd zusammen.
Dann zuckte er mit den Schultern. »Ich bin gekommen, um mit Euch zu reden.« Er zögerte einen ganz kurzen Moment.
»Allein.«
Tobias war viel zu erschöpft, um den Kopf zu drehen, aber er hörte, wie sich Bresser und Maria umwandten und mit schnellen Schritten das Zimmer verließen. Einen Augenblick später fiel die Tür ins Schloß.
»Ist mit Euch auch wirklich alles in Ordnung?« vergewisserte sich Theowulf.
»Wenn ich es doch sage - ja!« erwiderte Tobias gereizt.
»Was wollt Ihr? Warum habt Ihr Euch den weiten Weg
gemacht? Nur, um Euch nach meinem Befinden zu erkundigen?«
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Er vermochte Theowulfs Reaktion auf diese scharfen
Worte nicht zu erkennen, denn sein Gesicht trieb wieder auseinander; ein teigiger Brei, dessen Farbe allmählich die totenbleicher Pilze annahm.
»Also gut«, sagte Theowulf kalt. »Wie Ihr wollt. Warum seid Ihr gestern abend einfach davongelaufen?«
»Davongelaufen?« Tobias lachte leise. »Ich wußte nicht, daß ich auf Eurem Schloß gefangen war.«
»Was soll der Unsinn«, schnappte
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