Wolfgang Hohlbein -
wach. Sie stand am Fenster und blickte auf die Straße hinab. Als er eintrat, wandte sie nicht einmal den Kopf. Tobias begriff, daß sie die Prozession gesehen hatte.
Und wußte, was sie bedeutete.
Wieder fühlte er sich hilflos. Und alles erschien ihm mit einem Mal so unwirklich und aberwitzig wie der Traum, den er durchlebt hatte. In dem Chaos, das hinter seiner Stirn herrschte, war noch eine dünne, schwächer werdende Stimme, die ihm zuflüsterte, daß jetzt der allerletzte Moment war, umzukehren. Noch konnte er die Zelle verlassen. Sie wieder abschließen, aus dem Haus und mit etwas Glück sogar aus der Stadt entkommen, um Hilfe zu holen. Es würde ihm nicht leichtfallen, Gehör zu finden; die Geschichte, die er zu erzählen hatte, klang zu phantastisch, als daß man ihm Glauben schenken würde - aber er war kein kleiner Wan-335
derprediger, den man auslachen und davonjagen konnte, sondern ein offizieller Vertreter der Kirche, ein Inquisitor dazu, ein Mann von gewaltiger Macht und Einfluß, wie Theowulf ihm ja selbst gesagt hatte. Er würde die Unterstützung erzwingen können, gab man sie ihm nicht freiwillig.
Und überhaupt war dieser Weg der einzig mögliche. Aber er bedeutete auch gleichzeitig, Katrin endgültig aufzugeben.
Selbst wenn die Buchenfelder sie nicht umbrachten, würde er sie verlieren.
Tobias blickte den dunkelgrauen Schatten an, in den sich Katrins Gestalt vor dem Fenster verwandelt hatte, und doch schien dieser Augenblick Ewigkeiten zu dauern. Dies war die endgültige Entscheidung. Jetzt, in diesem winzigen, zeitlosen Moment mußte er den Schritt in die eine oder andere Richtung tun, der alles änderte. Er mußte sich entscheiden: für seinen Glauben - oder für Katrin.
Warum blieb für solch wichtige Entscheidungen immer so entsetzlich wenig Zeit? dachte er verzweifelt. Warum ließ ihm das Schicksal nicht eine kleine Frist, sich darüber klarzuwerden, was er tun sollte, der Logik und dem, woran er glaubte und wofür er bisher gelebt hatte, zu folgen, oder der Stimme seines Herzens?
»Du hast sie gesehen«, sagte Katrin plötzlich.
Sie sprach sehr leise und ohne ihn anzublicken. Ihre Worte schienen in der Dunkelheit zu versickern, ehe sie ihn erreichten. Ihre Stimme war völlig ausdruckslos. Da war keine Furcht, keine Panik - nichts. Und doch war es gerade diese Ruhe, die die Entscheidung brachte. Der fast heitere Ton in ihrer Stimme war der Fatalismus eines Menschen, der begriffen hatte, daß es vorbei war. Sie hatte nicht gehört, was der apokalyptische Reiter am anderen Ende der Stadt gesagt hatte, aber sie wußte, daß sie verloren hatte und es nichts mehr gab, was sie noch retten konnte.
»Was geschieht hier, Katrin?« fragte Tobias. Er trat hinter sie und hob die Hände, um ihre Schultern zu berühren, erstarrte aber dann zur Reglosigkeit und blickte an ihr vorbei aus dem Fenster. Er glaubte noch immer, das bleiche Knochengesicht mit den leeren Augenhöhlen zu sehen, das 336
für alle Zeiten erstarrte Totenkopfgrinsen, das nun nicht mehr nur das bedeutungslose Lächeln eines Totenschädels war, sondern ihm galt, ein hämisches Hohnlachen, das ihn verspottete, ihm seine eigene Kleinheit und Machtlosigkeit gnadenlos vor Augen hielt.
»Wir müssen weg, Katrin«, sagte Tobias leise.
Ein paar Momente vergingen, in denen sie sich nicht rührte; dann drehte sie sich ganz langsam herum und sah ihn an. Und trotz des bleichen Lichtes in der Zelle erkannte Tobias den ungläubigen Ausdruck auf ihrem Gesicht.
»Du -?«
»Du kannst mir alles später erklären«, unterbrach er sie.
»Jetzt ist keine Zeit mehr zu verlieren. Ich bringe dich hier weg.«
»Du ... du weißt nicht, was du da sagst«, flüsterte Katrin verstört. Aber gleichzeitig loderte auch eine jähe, verzweifelte Hoffnung in ihren Augen auf. Trotzdem fuhr sie fort:
»Sie werden uns beide töten.«
»Vielleicht«, antwortete Tobias hastig. »Aber sie werden ganz bestimmt dich töten, wenn du hierbleibst. Du hast sie gesehen, nicht wahr?«
Katrin nickte.
»Und du weißt auch, mit wem sie sich getroffen haben?«
Katrin nickte abermals.
»Dann komm endlich«, sagte Tobias. »Ich weiß nicht, wie-viel Zeit uns noch bleibt.« Er streckte die Hand aus, um Katrins Arm zu ergreifen, aber sie entzog sich seiner Bewegung und wich ein Stück von ihm zurück. »Nein«, sagte sie.
»Sie ... sie werden uns niemals entkommen lassen. Ich werde sterben. Bring du dich in Sicherheit. Sie werden dir nichts tun, wenn du mich
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