Wolfgang Hohlbein -
sie die Höhle verließen. Sie hatten sich nach Süden gewandt und waren nur einige Schritte weit gegangen - aber waren es zehn gewesen? Oder fünfzig? Oder hundert? Er erinnerte sich nicht mehr. Schließlich deutete er in die ungefähre Richtung, und Pretorius gab ihm mit einer Geste zu verstehen, daß er voranreiten sollte.
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Er entfernte sich so weit vom Wald, daß er ganz sicher war, mindestens die doppelte Strecke zurückgelegt zu haben wie an jenem Abend, ritt in weitem Bogen zurück und führte Pretorius und die anderen noch drei- oder viermal am Waldrand entlang. Sein Blick suchte aufmerksam den Boden ab, aber er fand nichts. Jeder Fußbreit Boden sah aus wie der andere. Und nach einer Weile gestand er sich ein, daß es sinnlos war.
»Ich weiß es nicht mehr«, gestand er niedergeschlagen.
Pretorius sah plötzlich noch trauriger und niedergeschlagener aus. Mit einer müden Bewegung wendete er sein Pferd, und sie ritten zum Waldrand zurück, wo Theowulf, seine Begleiter und die übrigen Soldaten auf sie warteten.
Katrin stand zwischen zwei der finster dreinblickenden Bewaffneten. Sie schien Mühe zu haben, sich auf den Beinen zu halten. Aber ihr Blick war wach und klar, und so absurd es Tobias im ersten Moment erschien - er glaubte fast, Zuversicht in ihren Augen zu erkennen, als sie ihn für einen Moment ansah.
»Also - zeig uns den Weg«, befahl Pretorius, nachdem er, gestützt von Telarius und einem der Soldaten, von seinem Pferd gestiegen war.
Katrin reagierte im ersten Moment überhaupt nicht. Doch dann drehte sie sich gehorsam um und begann mit kleinen, mühsamen Schritten, den Weg in den Wald hineinzugehen.
Ein sonderbares Gefühl des Unwirklichen ergriff von Tobias Besitz. Es war, als dränge er Schritt für Schritt wieder in die bizarre Welt seines Alptraumes vor, als entferne er sich mit jedem Schritt mehr von der Wirklichkeit und begebe sich zurück in die Dimension des Schreckens und der Hölle. Doch selbst Pretorius schien dieser verfluchte Ort mit Unbehagen zu erfüllen. Und die Blicke der Soldaten wurden immer angstvoller.
Schließlich blieb Katrin stehen und deutete mit aneinan-dergebundenen Händen auf eine Stelle rechts am Wege; eine kaum kniehohe, kaum wahrnehmbare Lücke im Unterholz.
»Was ist das?« fragte Pretorius.
»Wir müssen dort hindurch«, antwortete Katrin leise. »Ihr werdet . . . kriechen müssen.«
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Pretorius überlegte einen Moment, dann schüttelte er den Kopf. Mit einer knappen Geste winkte er zwei Soldaten herbei und deutete auf die Büsche neben Katrin. »Schlagt eine Bresche!« befahl er.
Katrin erschrak sichtlich. »Nein!« sagte sie. »Das dürft Ihr nicht!«
Tatsächlich verharrten die beiden Bewaffneten unschlüssig, was sie tun sollten. Und auch Theowulf wirkte
erschrocken, fand Tobias.
»Was soll das heißen?« fragte Pretorius scharf.
»Ihr . . .« Katrin brach ab, suchte einen Moment krampf-haft nach Worten und sah Tobias fast flehend an.
»Ihr dürft das nicht tun«, sagte sie schließlich. »Niemand darf hier irgend etwas verändern.«
»Unsinn!« rief Pretorius verärgert. Er wiederholte seine befehlende Geste und gab gleichzeitig einem dritten Soldaten zu verstehen, Katrin ein Stück beiseite zu führen. Dann hoben die beiden Bewaffneten ihre langen, doppelseitig geschliffenen Schwerter und begannen, mit vereinten Kräften auf das Unterholz einzuschlagen.
Immer wieder verfingen sich die Klingen in dem Gewirr aus Ästen und Ranken, und immer wieder mußten die Männer ihre ganze Kraft einsetzen, um ihre Waffen überhaupt aus dem Durcheinander zu befreien. Ein beständiges
Rascheln und Knistern hob an, während sie verbissen weiter auf die Büsche einhackten. In Tobias' Ohren steigerte sich dieser Laut rasch zu einem schmerzerfüllten Seufzen und Stöhnen, in das nach und nach der gesamte Wald einzustim-men schien. Er wußte plötzlich, daß Katrins Warnung nur zu berechtigt gewesen war. Was sie taten, war falsch. Ein Frevel, der nicht ungesühnt bleiben konnte. Dies war ein heiliger, unberührbarer Ort, wenn auch ein Hauch des Bösen über ihm liegen mochte. Und kein Mensch hatte das Recht, irgend etwas zu verändern oder gar zu zerstören, Katrins Angst war nicht gespielt: Ihre Augen waren dunkel vor Furcht, und ihr Blick huschte immer unsteter über die Mauer aus Geäst und dornigen Zweigen, als erwarte sie, daß sie sich jeden Moment erheben und auf sie stürzen würde.
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Die beiden Männer brauchte eine lange Zeit, um ihr
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