Wolfgang Hohlbein -
er den Grund ihrer Furcht zu wissen: Sie wollte keinen Priester belügen.
Das Schloß sprang auf, und Bresser stemmte die Schulter gegen die schwere Tür, um sie vollends zu öffnen. Dunkelheit schwappte wie eine Woge in den Raum, gefolgt von einem Schwall abgestandener, nach menschlichen Abfällen und Fieber riechender Luft.
Der Mönch warf Bresser einen ebenso überraschten wie zornigen Blick zu, schob ihn einfach zur Seite und trat durch die Tür.
Im allerersten Moment war er blind. In der Kammer
herrschte vollkommene Finsternis. Es gab ein Fenster, aber es war mit Brettern vernagelt, und nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er, daß jemand selbst die Ritzen mit Lumpen zugestopft hatte. Es stank so entsetzlich, daß Tobias kaum atmen konnte, und im gleichen Moment fiel ihm etwas ein, was ihm draußen bereits aufgefallen war, dem er aber noch keine Bedeutung zugemessen hatte. Eine dicke Schicht Staub lag auf dem Boden, aber nirgends waren Spuren zu sehen. Wenn jemand hier gewesen war, dann mußte es Wochen her sein.
Angestrengt sah Tobias sich um, konnte aber nur Schatten erkennen. Ein Geräusch drang an sein Ohr, das er im ersten Moment für ein Wimmern hielt, bis er begriff, daß es die 62
mühsamen, rasselnden Atemzüge eines sterbenden Men-
schen waren. Seine Sandalen verursachten feuchte, klebrige Geräusche auf dem Boden, als er zu Bresser herumfuhr.
»Wie lange war niemand in diesem Raum?« fragte er.
»Wann habt Ihr das letzte Mal nach ihr gesehen?«
Bresser zögerte.
»Wann?« herrschte ihn Tobias an.
»Seit . . . zwei Wochen«, antwortete Bresser stockend.
Hastig fügte er hinzu: »Wir haben Wasser und Brot für einen Monat hiergelassen, und . . .«
»Öffnet das Fenster!« unterbrach ihn Tobias. »Sofort!«
»Aber Vater! Der Graf . . .«
»Mach das Fenster auf!« befahl Tobias. »Ich befehle es dir!«
Er konnte auch Bresser nur als Umriß erkennen, aber daß der Mann unter seinen Worten zusammengefahren war,
hatte er dennoch gesehen. Mit schnellen Schritten eilte er an Tobias vorbei und begann die Latten von der winzigen Fensteröffnung zu reißen.
Selbst das Licht, das in den Raum strömte, wirkte schmutzig. Tobias blinzelte im allerersten Moment, sah sich um -
- und blieb betroffen mitten in der Bewegung stehen.
Die Gestalt ähnelte eher einem Lumpenbündel als einem lebendigen Menschen. Weder Gliedmaßen noch Gesicht
waren zu erkennen - die Frau hatte sich zusammenge-
krümmt, die Beine an den Körper gezogen und die Knie fest mit den Armen umschlungen; die Haltung eines Unge-borenen, das Schutz in der Wärme des Mutterleibes suchte.
Ihr Kleid mußte einmal weiß gewesen sein, war aber jetzt von einem matten Braun und hing in Fetzen, die nicht zerrissen, sondern von Fäulnis zerfressen waren. Der Gestank, der Pater Tobias entgegenschlug, war so entsetzlich, daß ihm übel wurde.
Er starrte Bresser an. Der Dicke erwiderte seinen Blick fast trotzig, und was Tobias im allerersten Moment für Betroffenheit hielt, entpuppte sich beim zweiten Hinsehen als Angst - vor Tobias oder vor dem Grafen, gegen dessen ausdrücklichen Befehl er Tobias hier hereingebracht hatte.
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Tobias schluckte den bitteren Speichel herunter, der sich schon wieder unter seiner Zunge gesammelt hatte, und machte einen zweiten, zögernden Schritt auf die Jammerge-stalt in der Ecke zu, blieb aber sofort wieder stehen. Es kam ihm selbst verrückt vor - aber er hatte Angst, weiterzugehen und in das Gesicht zu blicken, das unter dem verfilzten braungrauen Haar sein mochte. Die Frau lebte noch, aber für einen Moment wünschte sich Tobias fast, daß sie doch schon gestorben wäre. Nur ein Wunder konnte sie noch retten. Und niemand, gleich, was er getan hatte, sollte unter solchen Umständen sterben müssen.
»Hol etwas Wasser«, bat er, an Bressers Frau gewandt.
Maria zögerte, warf einen Blick auf ihren Mann und
bewegte sich erst, als dieser fast unmerklich nickte. Tobias'
Groll wuchs durch dieses Verhalten noch. Zum ersten Mal im Leben hatte er den Wunsch, jemanden zu schlagen.
Er drängte seinen Ekel zurück und ging neben der Frau in die Hocke. Er schämte sich vor sich selbst dafür, aber seine Hände zitterten, und es kostete ihn all seine Kraft, die Arme auszustrecken und die zusammengekauerte Gestalt zu
berühren. Aber auch sie, so sagte er sich, sei ein Geschöpf Gottes, eine verwirrte Seele vielleicht nur.
Der Stoff ihres Kleides war feucht und löste sich unter seiner
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