Wolfgang Hohlbein -
dieser einen Sünde, die letztendlich die Richtung bestimmen mochte, in die sich die Waagschale der Gerechtigkeit senkte: zum Paradies oder zur Hölle hin.
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Tobias' Todsünde hieß Katrin.
Großer Gott - wie lange war es her, daß er sie kennengelernt hatte? Er wußte es nicht. Katrin war drei Jahre jünger als er - mithin jetzt neunundzwanzig -, und sie hatten sich oft getroffen, hatten in der wenigen Zeit, in der sie keine Arbeiten im Haus verrichten mußten, mit der Rupfenpuppe gespielt, die Katrins Pflegemutter ihr gefertigt hatte, und waren gemeinsam durch die endlosen finsteren Wälder gestreift. Im Sommer hatten sie zusammen im Fluß gebadet und waren im Winter gemeinsam lachend über das Eis
geschlittert. Sie waren Freunde gewesen; ungleiche Freunde, denn Katrin war ein Findelkind, das keine Eltern hatte und von einer gutherzigen Frau aus dem Dorf aufgezogen wurde, obgleich das arme Weib oft genug selbst kaum zu essen hatte, während Tobias als Sohn eines Kaufmannes von bescheidenem Wohlstand aufwuchs, nicht reich, aber doch das Kind einer Familie, der das Wort Hunger beinahe fremd war. Er war ein Junge, sie ein Mädchen, aber sie waren klein
- er sieben und sie vier, als sie sich kennenlernten, und niemand hatte etwas gegen ihre Freundschaft gehabt. Sie wuchsen gemeinsam wie Bruder und Schwester auf, ihr Dorf war klein, und von der Welt erfuhren sie nur, wenn ein Barde in den Ort kam und von Kaiser und Reich erzählte, Dinge, von denen sie kaum etwas verstanden.
Tobias' Leben - und wohl auch das Katrins - wäre
wahrscheinlich völlig anders verlaufen, wäre nicht in dem Jahr, in dem er sechzehn geworden war, etwas geschehen: Ein Wanderprediger kam in die Stadt.
Er hatte keine Schule besucht. Schulen gab es in den gro-
ßen Bischofsstädten für die Kinder der Fürsten oder vornehmen Ratsherren. Lesen und ein wenig Rechnen hatte ihm sein Vater beigebracht, genug zumindest, daß er später das Geschäft übernehmen konnte, ohne es binnen einer Woche zu ruinieren. Was die Bibel anging, so gab es ohnehin nur eine Autorität im Ort: den Pfarrer, der eine Bibel besaß und auf alle Fragen die richtige Antwort wußte. Er war auch der einzige, der die Freundschaft zwischen Tobias und Katrin recht argwöhnisch betrachtete - ahnte er doch, daß die bei-67
den im Wald etwas anderes taten, als Beeren zu sammeln oder Holz zu holen. Auch Tobias' Vater schien um ihre Liebe zu wissen, aber nie verlor er ein Wort darüber; es war ohnehin klar, daß Tobias und Katrin heiraten und er das Geschäft des Vaters übernehmen würde.
Wäre nicht der Wanderprediger gekommen.
Tobias interessierte sich zu jener Zeit nicht sonderlich für die Belange der Kirche. Er glaubte an Gott und an den Teufel und besuchte regelmäßig die Messe, im übrigen meinte er, seiner Christenpflicht damit Genüge zu tun.
So kam es, daß er - wie die meisten anderen Dörfler auch - die verhärmte Gestalt in der einfachen, nur von einem Strick zusammengehaltenen Kutte, die eines Morgens auf dem Marktplatz erschien und ewiges Feuer und Verdammnis zu predigen begann, nicht besonders ernst nahm.
Zwar blieb er stehen und hörte ihren Predigten eine Weile zu, aber das, was er verstand, klang ihm recht düster und sonderbar. Er hatte nicht einmal gewußt, zu welchem der zahllosen Bettelorden der Mönch gehörte, und sollte es auch nie erfahren.
Was Tobias aber in seinen Bann schlug, war die Art, wie der Mann redete. Er sprach mit flammenden Worten, die von Gesten von eindringlicher Macht begleitet wurden, und die Dörfler, die nur stehengeblieben waren, weil das Erscheinen des Bettelmönchs eine Abwechslung im täglichen Einerlei bedeutete, hingen schon bald gebannt an seinen Lippen.
Auch ihm erging es nicht anders.
Er war zusammen mit Katrin gekommen. Es war ein
freundlicher Sommerabend, und die Sonne würde erst in zwei, drei Stunden untergehen. Sie hatten zum Fluß gehen wollen und dabei aus irgendeinen Grund den Umweg über den Marktplatz gemacht. Katrin liebte es zu baden, Tobias nicht. Aber er sah ihr gern dabei zu, und sie mochte es, wenn er am Flußufer saß und sie betrachtete. Er bewunderte sie, und Katrin genoß es, bewundert zu werden. Sie hatte auch Grund, stolz auf sich zu sein, denn obwohl sie gerade erst in diesem Jahr dreizehn geworden war, hatte sie bereits den Körper einer Frau, noch sehr schlank und ein bißchen 68
kindlich, aber vielleicht gerade deshalb so reizvoll - ohne die schweren, faltigen Brüste seiner Mutter oder
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