Wolfgang Hohlbein -
Berührung in schmierige Fetzen auf. Die Haut darunter war mit Schorf bedeckt und starrte vor Schmutz; und sie schien zu glühen. Zwei Wochen! dachte Tobias entsetzt. Sie hatten sie hier eingesperrt, und sie hatten sich volle zwei Wochen lang nicht um sie gekümmert!
Er sah auf, schenkte Bresser einen zornbebenden Blick und sah sich suchend um. In einer Ecke lag etwas, das er erst beim dritten Hinsehen als einen Haufen grünverschimmeltes Brot erkannte, das zum Teil schon zu einer weißlichen Masse zusammengefault war; stinkender Schleim, der tötete, wenn man ihn aß. Daneben faulte ein kleiner Rest Wasser in einem Zinkeimer. Tobias' Groll schlug beinahe in Haß um.
Als er fester Zugriff und versuchte, die Frau herumzudrehen, klirrte Eisen.
Tobias schloß entsetzt die Augen. Sie hatten sich nicht 64
damit zufrieden gegeben, sie hier einzuschließen und einfach zu vergessen. Sie hatten sie angekettet.
»Schließt . . . die Ketten . . . auf«, sagte er stockend. Das Sprechen fiel ihm schwer. In seiner Kehle saß ein bitterer, harter Kloß. Übelkeit, Ekel und Zorn vermischten sich zu einem Gefühl, das er nicht kannte und das ihn fast Angst vor sich selbst empfinden ließ.
»Das darf ich nicht«, antwortete Bresser. »Der Graf läßt mich auspeitschen, wenn ich das tue.«
Tobias sah auf. Seine Stimme war ganz ruhig, aber das neuerliche Zusammenfahren des dicken Mannes verriet ihm, daß sich in seinem Blick sehr viel von dem spiegelte, was er empfand.
»Das ist nichts gegen das, was ich mit Euch tun werde, wenn Ihr nicht auf der Stelle gehorcht«, sagte er. »Was haltet Ihr von einer Anklage wegen Mordes? Was haltet Ihr davon, wenn sich die Inquisition mit Euch beschäftigt, Bresser?«
Bresser wurde bleich. Er mochte ahnen, daß Tobias nur leere Drohungen ausstieß; aber er sah Tobias wohl auch an, wie ernst er es meinte. Und er war nicht nur ein Geistlicher.
Er war Inquisitor. Die schlichte Kutte, die er trug, gab ihm Macht über Leben und Tod.
»Vater, ich . . .«
»Öffnet die Ketten!« schrie Tobias.
Bresser nickte abgehackt, klaubte einen Schlüssel aus der Jackentasche und ließ sich mit deutlich angeekeltem Gesichtsausdruck neben Tobias auf die Knie sinken. Als er nach den Ketten griff, gab er sich alle Mühe, die zitternde Gestalt nicht zu berühren.
Tobias half ihm, so gut er konnte. Er ging sehr behutsam zu Werke, denn obwohl die Frau das Bewußtsein verloren zu haben schien, ahnte er doch, daß ihr jede Berührung unerträgliche Pein bereitete. Vorsichtig drehte er sie herum, bettete ihren Kopf auf seinem Schoß und wartete voller Ungeduld darauf, daß Bresser die Ketten löste. Abermals fuhr er zusammen, als er sah, daß das Fleisch ihrer Handgelenke darunter fast bis auf die Knochen aufgerissen war; eine einzige, schwärende Wunde, die näßte und stank.
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Bresser biß sich auf die Unterlippe und sah weg, und Tobias begriff, daß alle Vorhaltungen sinnlos wären. Kopfschüttelnd streckte er die Hand aus, strich das verklebte Haar aus dem Gesicht der bewußtlosen Frau -
- und stürzte jählings in die Hölle.
Ihre Tore öffneten sich für ihn im gleichen Moment, in dem er in das Gesicht unter dem Schmutz und Eiter blickte, die verzerrten, fast unkenntlichen und für ihn doch so entsetzlich vertrauten Züge gewahrte, dem Blick der offenen, aber nichts sehenden Augen begegnete. Ihr feuriger Atem streifte ihn, als er in dieses Gesicht blickte, und er schien etwas in seiner Seele zu treffen, als er einen furchtbaren Augenblick später begriff: Es war seine Katrin.
3
Im Leben jedes Menschen gibt es eine große Sünde. Sünden gab es viele; fast so viele, wie es Gelegenheiten gab, zu sündigen. Es verging kein Tag, an dem man nicht eine oder mehrere beging, viele Sünden waren entschuldbar und erklärlich
- was sie indes keinen Deut leichter wiegen ließ, denn es war ja gerade die heilige Pflicht eines jeden Menschen, sein Leben so zu gestalten, daß er nicht gegen die Gebote der Kirche und Gottes verstieß. Es hatte von jeher zu Bruder Tobias'
festen Überzeugungen gezählt, daß kein menschliches Wesen außer der Jungfrau Maria ohne Sünde war, nicht einmal die Heiligen; ja, wahrscheinlich nicht einmal die Apostel, obgleich sie von Gottes Sohn selbst geleitet worden waren.
Aber darüber hinaus - und auch davon war Tobias fest überzeugt - beging jeder Mensch mindestens eine große Sünde (die nicht immer mit einer der sieben Todsünden übereinstimmen mußte!), und es war das Gewicht
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