Wolfs Brut: Kommissar Kilians zweiter Fall
kalten Zeiten. Denn die Kämpfer an der »unsichtbaren Front« von damals steckten heute in Nadelstreifenanzügen und Designerkleidern in den oberen Führungsetagen multinationaler Unternehmen und mischten kräftig mit. »Wenn du den Feind nicht von außen besiegen kannst, dann dring in ihn ein, mache ihn dir zum Freund, und eines Tages erhältst du die Chance, das Ruder selbst in die Hand zu nehmen«, hieß die Parole. Viele folgten ihr und erreichten die gesteckten Ziele. Die dafür notwendigen finanziellen Mittel sprudelten zwar nicht heftig, aber wann immer man sie brauchte, klingelte die Kasse. Die Millionen und Milliarden der DDR-Ministerien wurden rechtzeitig vor dem Fall der Mauer auf sicheres westliches Terrain mit entsprechenden Nummernkonten transferiert. Solange Schweizer, Liechtensteiner und andere Geldwäscherbanken gut daran verdienten, gab es keinen Anlass, dem Einhalt zu gebieten.
Wenn nicht Sascha selbst die Schuld eingetrieben hätte, dann wäre es ein »Mann im Hintergrund« gewesen, der sich ihrer angenommen hätte. Somit war seine Drohung ein mehr oder minder freundschaftlich gemeinter »Rat«. Das war Galina klar.
Das frisch ausgehobene Grab, an dem Galina einen ihrer Leibwächter im Sommer tot gefunden hatte, unterschied sich nicht mehr von den übrigen Gräbern. Sie hob eine Blumenschale an und blickte darunter: Nichts außer Asseln. Hinter dem Grabstein konnte sie nur plastikrote Ewige Lichter und ein Wegwerffeuerzeug finden. Sie untersuchte auch die anderen Gräber im Umkreis, bis sie sich erschöpft auf eine Bank setzte.
Nicht weit von ihr spielte ein kleiner Junge Pilot. Er rannte den Kiesweg entlang auf sie zu. Am Himmel mühte sich eine schwache, aber klare Herbstsonne, etwas Licht und Wärme zu spenden. Der Junge kam näher und setzte plappernd zum Start an.
Galina hielt die Hand schützend gegen die tief stehende Sonne. Sie schloss die Augen und sah ein kleines Mädchen, das mit ausgebreiteten Armen den Gang einer Tupolev entlanglief. Das Mädchen hieß Tatiana und trug ein weißes Kleid und weiße, kurze Söckchen. Ihr Haar war pechschwarz und zu zwei Zöpfen gebunden. An ihrer Gänsehaut konnte man erkennen, dass sie fror. Dem Mädchen schien das nichts auszumachen, denn sie spielte voller Hingabe, und die Aufforderungen des Vaters, sich etwas überzuziehen, ignorierte sie.
Die Tupolev befand sich auf dem Weg von Moskau nach Havanna. Neben ihrem Vater, einem Raketeningenieur, waren mehrere KGB-Mitarbeiter, zwei chinesische Unterhändler und der Chef der Auslandsaufklärung, Sascha Lupinski, an Bord. Er vertrieb sich die Zeit mit Lesen und spielte mit ihr Pilot, sobald sie auf ihn zulief. Die zwei Chinesen, die vor ihm saßen, hielten ihre Aktenkoffer fest umklammert, als fürchteten sie, dass sie ihnen wegflögen. Als die Tupolev in eine Schlechtwetterfront geriet, hielt Sascha Tatiana fest an sich gedrückt, damit ihr nichts passierte. Ihr Vater war damit einverstanden. Offensichtlich wusste er, auf wessen Schoß sie saß und dass sie in Sicherheit war. Sascha wurde unruhig, als er zum Fenster hinausblickte und Festland sah. Er hob Tatiana zurück in ihren Kindersitz und schob mehrere Akten in die Polsterung. Als die Stewardess den Gästen mitteilte, dass die Maschine wegen eines Motorschadens kurzfristig notlanden musste, gerieten die beiden Chinesen vor ihm in Panik. Sie öffneten ihre Aktenkoffer und begannen, die Papiere Stück für Stück zu essen. Die KGB-Leute redeten unaufhörlich auf die Passagiere ein, als unter ihnen die Freiheitsstatue zu erkennen war und wenig später auf dem JFK- Flughafen Reporter die Maschine bestürmten. Nachdem sie stundenlang in der Kälte festgesessen hatten, kam der sowjetische Botschafter an Bord und verhieß ihnen den unbehelligten Weiterflug.
Tatiana hatte die Zeit spielend vor der Toilettentür verbracht. Dahinter hatten sich die beiden Chinesen verbarrikadiert. Seltsame Geräusche drangen daraus hervor. Erst kurz vor der Landung verließen die beiden die Toilette. Die Koffer, die sie bei sich führten, waren leer.
Später saßen sie zu Hause in Havanna in der Küche. Sascha und ihr Vater amüsierten sich bei Rum und Tabak über die Ereignisse während des Fluges, als Tatianas Freund Johannes hereinkam. Er war nur wenig älter als sie und Sohn eines deutschen Geschäftsmannes, der in der Karibik seinen Geschäften nachging. Johannes weinte, weil ihn sein Vater wieder einmal geschlagen hatte. Sascha fragte ihn nach dem Grund, worauf
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